Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
würde, nahm ich sie an mich und ging damit ins Bett zurück.
Der Tee am Bett war zwar schon kalt, aber ich nahm noch eine Tasse zu mir und aß auch einige Kokosbällchen vom Teller. Die Kopfschmerzen waren weg, und das Kratzen im Hals wurde auch schwächer. Ich machte mir das Licht an und schaute mich erst mal richtig im Zimmer um. Es war genauso gemütlich wie die Küche. An den Wänden hingen zahlreiche wunderschöne Fotografien mit Naturmotiven, und es waren auch farbfrohe und originelle Zeichnungen dazwischen. Sie waren passend eingerahmt, in den verschiedensten Arten und Weisen: einige oval, die meisten rechteckig. Manche Rahmen waren aus Holz, andere wieder aus Kunststoff oder nur mit einer Glasscheibe versehen. Ein Sammelsurium aus vielen Jahren, wie es schien. Ich nahm mir vor, sie später noch eingehend zu betrachten. Am Fenster, das sich zum Garten hin öffnete, war noch eine einladende kleine Sitzgruppe mit Tisch platziert, auf dem ein frischer Strauß Gartenblumen stand.
Zunächst zog ich das warme Bett vor, und vor allem die Zeitschriften! Ich lächelte, als ich im Stapel einige ältere „FRiZ“-Ausgaben entdeckte. Diese legte ich beiseite. Vor allem fand ich im Stapel Gartenzeitschriften vor, andere Hefte wiederum hatten alternative Heilmethoden zum Thema. Ich fand auch Astrologiehefte und hochwertige Esoterik, Psychologie, Kochen und Backen. Diese Auswahl passte gut zu Frau Mertens. Ganz unten im Stapel entdeckte ich zwei identische Taschenbücher. Ich nahm eines zur Hand.
Auf dem Deckblatt stand:
„Lebenslicht – Ein Kinderleben voller Schatten und Licht“
Es begann mit einer Tiergeschichte, einer Parabel: „Die Geschichte vom Eichhörnchen, das anders war.“
Es war einmal ein Eichhörnchen, das hatte einen kerzengeraden, starren Schwanz. Dieser Schwanz war buschig und das Fell war rotbraun, aber – er war stocksteif. Seit der Geburt war das so. Mama und Papa Eichhorn waren sehr erschrocken und traurig. Ein solches Eichhornbaby hatte es noch nie in der Familie gegeben! Oma Eichhorn war auch sehr traurig und auch der Bruder dieses Babys. […]
Ich überlegte, was das mit einem Kinderleben zu tun haben könnte, und blätterte weiter vor. Es folgte ein Vorwort, das mit einem ungewöhnlichen Gedicht begann:
Das Leben ist das Leben
Und das Licht ist das Licht
Und es wird immer Leben geben
Denn das Leben ist das Licht
Das ist die Kette des Lebens
Ein Gedicht von Martin, im Alter von 10 Jahren. Ein Junge, körperbehindert, autistisch...
Aus dem Stand deklamiert, einfach nur so, aus einem Gefühl heraus.
Was weiß so ein Kind über das Leben und das Licht Gottes?
Wissen?
Nein, das ist es nicht. Kein „Wissen“ im klassischen Sinne.
Er war ein lebendiges Licht, ein besonderes Kind Gottes, Schüler und Meisterlehrer zugleich.
Martin lebte sein Leben voller Hingabe und mit Kraft. Alle Höhen, alle Tiefen.
Er kostete alles aus, bis zur Neige. Mit einer Intensität, die für seine Familie manchmal kaum zu ertragen war.
Die Kette seines Lebens – sie ist nicht gerissen. Nein, er hat seiner Kette eine neue, schimmernde Perle hinzugefügt!
Ich lade Sie ein, ihn zu begleiten auf seiner Lebensreise, die knapp 16 Jahre währte.
[…]
Ich war betroffen. „Eine Lebensreise, die knapp 16 Jahre währte…“ Hieß das etwa, dieser Junge war als 15jähriger gestorben? Es klang so. Wer war dieser Junge, und: Wer war der Autor dieser umfangreichen Geschichte? Ich blätterte noch mal nach vorn und fand den Namen Mira Mertens!
Meine Neugier auf diese Geschichte bekam dadurch einen gehörigen Dämpfer. Das war doch sehr, sehr privat. Der Anstand gebot es, Frau Mertens zuerst um Leseerlaubnis zu bitten. Ich legte daher das Buch auf den Nachttisch und griff wahllos in den Zeitschriftenstapel und fing an zu blättern. Als ich bei der dritten Zeitschrift angelangt war, schweifte mein Blick immer öfter ab. Das Buch auf dem Nachttisch zog mich förmlich magisch an. Ich konnte mich noch zwei weitere Zeitschriften lang („Was bringt uns das Jahr 2012?“ und „Sommerbeeren in Hülle und Fülle!“) beherrschen, dann siegte meine Neugier über den Anstand und ich las weiter. Ich hatte ja ohnehin schon, ohne es zu wollen, die Privatsphäre meiner Gastgeberin verletzt, da kam es auf einige Seiten mehr auch nicht mehr an, dachte ich. Aber ich schämte mich auch ein wenig dafür. (So viel zu meiner Ehrenrettung.)
Es folgte eine Schilderung des ersten Lebensjahres von Martin, offenbar
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