Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
waren Kleidung und Spielzeuge herausgezerrt. Die Tapete hing stellenweise in Fetzen von der Wand. Dennoch war es auf seine eigene Art ein gutes Kinderzimmer. Es war mit Liebe eingerichtet und kindgerecht.
Es folgten noch einige Fotos, dann ging die Erzählung weiter. Frau Mertens berichtete nun von einem geplanten Heimaufenthalt, der unumgänglich geworden war, weil am Wohnort keine geeignete Schule vorhanden war. Sie hatte kürzlich eine Vollzeitstellung als Arztsekretärin angetreten, um dem häuslichen Stress zu entkommen und ihr Mann sorgte jetzt für den Haushalt und die Kinder.
Offenbar lief das nicht so gut, denn sie schrieb verzweifelt:
Obwohl die Arbeit mir gefiel, merkte ich bald, wie schlecht ich zurechtkam. Mein Gedächtnis war miserabel, ich war langsam, ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um konzentriert zu arbeiten. Auch brauchte ich eine längere Mittagspause, ehe ich mich an die Fertigstellung der Gutachten setzen konnte. Vor 16-17 Uhr war ich selten fertig, die andere Sekretärin ging oft schon um 15 Uhr.
Immer wieder schlichen sich bei den Diktaten eigene Gedanken ein und ich musste dann nachfragen, auch passierte es, dass ich mir bekannte Fremdwörter einfach nicht mehr schreiben konnte – ich wusste die Schreibweise nicht mehr! Mein Körper fing an zu streiken. Ich hatte Ohrgeräusche und Schwindel, meine Finger fühlten sich pelzig und steif an. Ich sah immer wieder Martins Gesichtchen vor mir und die Vergangenheit wurde lebendig. Dann kamen Rückenschmerzen dazu, auch Schultern und Ellbogen schmerzten schon am frühen Vormittag nach wenigen Diktaten. Ich wurde immer ängstlicher, denn mein Chef hatte schon bemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmte.
Hinzu kam, dass Martins Verhalten sich kontinuierlich verschlechterte, vor allem im Kindergarten.
Im aktuellen Entwicklungsbericht wurde Martin so beschrieben:
Die Berufstätigkeit der Mutter hat alte negative Verhaltensweisen wieder verstärkt hervorgerufen. Zu Anfang des Kindergartenjahres zeichnete sich Martins Wesen durch seine fröhliche Art und seine Wissbegierigkeit aus. Er war in der Gruppe integriert und konnte seine Bedürfnisse einigermaßen angemessen äußern. In den letzten Monaten haben sich Martins Verhaltensweisen jedoch drastisch verändert. Er ist starken Stimmungsschwankungen unterlegen. Ist er in einem Moment noch fröhlich, so hat er im nächsten einen Wutanfall ohne einen für den Erzieher ersichtlichen Grund. Außerdem häufen sich die Phasen, in denen er sich aus dem Gruppengeschehen herauszieht. Dieses geschieht entweder räumlich oder dadurch, dass M. plötzlich so abwesend ist, dass eine Ansprache nur in Verbindung mit Körperkontakt wahrgenommen wird. Sein Verhalten ist inzwischen fast ausschließlich bedürfnisorientiert, er verweigert sich Anforderungen, neigt zu aggressiven Ausbrüchen und ist in die Position des Außenseiters gerutscht. Über Gefühle und Themen, die ihn emotional berühren, spricht er kaum noch oder beschränkt sich auf Fakten. Er nässt und kotet ein und spielt, ohne darauf zu achten, weiter.
Wir empfehlen die Unterbringung in einem passenden Kinderheim.
Statt Schule ein Kinderheim! Ich war entsetzt.
Wie es aussah, war alles schlimmer geworden, statt besser. Arme Familie Mertens! Doch das war noch nicht alles, es kam noch schlimmer. Frau Mertens wurde ein Fall für die Psychiatrie! Sie verkraftete nicht länger die Doppelbelastung, konnte ihre Arbeit nicht mehr ordentlich verrichten und erlitt nach einigen Monaten Berufstätigkeit einen Nervenzusammen-bruch, der sie in die Klinik brachte. Vorausgegangen war ein Traum, den ich sehr aufschlussreich fand:
Ich träumte von zwei Bauarbeitern mit Presslufthammer, die oben auf einer Brücke standen, die die Form des Buchstaben „M“ hatte (der erste Buchstabe meines Vornamens). Sie waren dabei, diese Brücke zu zerstören, zu durchbohren. Einer der Arbeiter warnte seinen Kollegen, er solle doch vorsichtiger sein – doch zu spät:
Ein Brückenbogen zerbrach, der Arbeiter stürzte tief in den Abgrund und blieb tot in einer großen Blutlache liegen.
Im Traum war auch meine Familie anwesend: Mutter, Schwestern, mein Mann und einige Fremde. Sie hielten sich mit mir in einer Art Aussichtsturm auf. Ich zeigte aufgeregt nach draußen:
„Seht, was mit mir dort passiert!“
Doch sie hörten und sahen mich nicht. Ich war für sie unsichtbar.
Sie sahen auch nicht nach draußen, wo das Unheil seinen Lauf nahm.
Ich blickte auf das
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