Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
aufrecht. Zukünftig würde Martin, der weiterhin sehr jähzornig und unberechenbar war, von morgens bis nachmittags außer Haus sein – ein stärkender Gedanke!
Ich würde zum Beispiel Einkaufen gehen können, ohne dass Martin ein fremdes Kind biss, oder sich von der Hand losriss oder, oder, oder...! Außerdem würde ich nun ungestörte Zeit mit Markus verbringen können, der inzwischen auch eine leichte Entwicklungsverzögerung zeigte.
Mir wurde klar, wie außerordentlich anstrengend ihre Tage als junge Mutter gewesen sein mussten. Und auch für den kleinen „Großen Bruder“ musste es eine Art Martyrium gewesen sein. Der folgende Abschnitt machte mich sehr betroffen:
Das geregelte Leben im Kindergarten tat Martin gut, wenngleich er immer wieder seine Wutanfälle bekam, sowohl dort als auch zuhause.
Allein die Aufforderung zum Händewaschen nach dem Toilettengang konnte für mich Prügel bedeuten. Er hörte erst dann auf zu schlagen, wenn ich wiederum ihm einen Schlag versetzte – aber um Himmels willen, ich wollte mein Kind nicht schlagen! Genauso wenig wollte ich ihn anbrüllen, aber oftmals half wirklich nur ein „Antworten auf gleicher Ebene“. Ich war so verzweifelt.
Mit Markus war alles anders. Markus ließ mit sich reden und fügte sich auf natürliche Art in die Familiengemeinschaft ein. Hätte ich meinen Erstgeborenen nicht gehabt, wäre ich völlig an meinem Mutter-Sein verzweifelt und hätte endgültig alle „Schuld“ mir zugeschrieben.
Ich versuchte, mich in ihren Alltag einzufühlen, stellte mir vor, wie es sein würde, wenn ich die Mutter dieser Kinder gewesen wäre. Ich schaffte es aber nicht. Das war so grundverschieden von meinem Leben und meinem Alltag, dass es mir nicht wirklich vorstellbar war. Hatte ich überhaupt einen Kinderwunsch? Ernsthaft? Mein Berufsleben hatte Vorrang, kein Zweifel. Kinder? Ja, nein, vielleicht… Vielleicht später einmal. Aber was wäre, wenn auch ich „so ein Kind“ zur Welt bringen würde? Käme ich mit einer dermaßen frustrierenden Mutterschaft zurecht? Wo ich doch immer so schnell wegen jeder Kleinigkeit wütend wurde? Mit wurde unbehaglich zumute und ich schüttelte diese Gedanken ab. Ich nahm mir vor, mit rein „journalistischen Augen“ weiterzulesen.
Dann hatte sie einen Tagebucheintrag eingefügt:
„Martin hatte heute einen sehr schlechten Tag. Den größten Teil des Tages war er reizbar und jähzornig und hatte während eines Wutanfalles (er sollte seine Straßenschuhe ausziehen) mehrere Spielzeuge kaputt gemacht und mich getreten, geschlagen, gebissen – praktisch alles auf einmal, ich konnte mich gar nicht so schnell außer Reichweite bringen. Kurz danach lag er weinend in meinen Armen und war tieftraurig. In einer ruhigen Minute gab ich ihm einer Eingebung folgend, ein Paracetamol-Zäpfchen gegen Schmerzen. Das schien das Richtige gewesen zu sein, denn nach etwa einer Stunde ging es ihm besser und er hatte auch keine Schatten mehr unter den Augen. Es gab da noch etwas, was mich sehr beunruhigte. Martin riss sich hin und wieder ein Büschel Haare aus und schien dabei keinen Schmerz zu empfinden. Auch biss er sich manchmal selber in die Hand oder den Arm und fand das sehr komisch und lachte.
Ich konnte darüber nicht lachen – ich fand das sehr ungewöhnlich – besser gesagt: erschreckend!
Das mit dem Haare ausreißen und sich selber in die Hand beißen, kam mir irgendwie bekannt vor. War das nicht auch im Film „Rainman“ vorgekommen? Ich las weiter und staunte über die Belastbarkeit dieser Frau.
Von den Erzieherinnen bekam ich viel Rückenstärkung. Es gelang mir zunehmend besser, Martin Grenzen zu setzen und nicht mehr Spielball seiner Launen zu sein. Mir war klar geworden, dass ich für ihn härter sein musste, fester, berechenbarer – denn das Chaos in ihm war groß.
Ende Oktober erkrankten beide Kinder an einer Bronchitis mit hohem Fieber (41°!) und nicht lange nach der Genesung bekamen sie in kurzem Abstand die Windpocken. Nach insgesamt 11 Wochen mit zwei kranken Kindern war ich wieder reif für die Insel!
Neue Sorgen kamen. Unser Ältester zeigte Anzeichen für eine minimale zerebrale Dysfunktion (ein typischer Satz war: „Ich kann kaum die Treppe runter, meine Beine gehorchen mir nicht.“). Außerdem war die Zungenmotorik eingeschränkt und er hatte Probleme mit der Hand-Auge-Koordination. Er wurde nicht eingeschult, sondern sollte die Vorklasse einer Sprachheilschule besuchen. Die war im
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