Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
tiefrote Blut und erwachte dann verängstigt.
Der Klinikaufenthalt dauerte dann nur drei Wochen, weil sie selber auf Entlassung drängte. Anfangs hatte sie Nacht für Nacht 14 Stunden am Stück geschlafen, so tief, so abgrundtief war ihre Erschöpfung gewesen. Nach der Entlassung aus der Klinik wurde sie weiterhin krankgeschrieben, was dann bald die Entlassung aus der Landesversicherungsanstalt, für die sie tätig war, zur Folge hatte. Sie war noch in der sechsmonatigen Probezeit gewesen, deswegen konnte sie gegen die Entlassung nichts ausrichten. Leider machte ihr Mann ihr damals Vorwürfe und sagte, sie würde „die Existenz der Familie gefährden“ mit ihrer „Schwäche“.
Also wirklich. Blödmann! Blödmann hoch drei! Ich geriet in Rage und hätte ihm sehr gerne die Meinung gegeigt. Wenigstens fand er nach wenigen Wochen Arbeit für sich. Frau Mertens hatte dann noch monatelang mit schweren Depressionen zu kämpfen, auch mit einer schweren Bronchitis, die sie sich in der Klinik noch zugezogen hatte. Diese war so heftig, dass sie sogar „Wasser in der Lunge“ hatte, was auch immer das bedeuten mochte.
Auf die Kinder hatte das alles natürlich auch Auswirkungen und sie machte sich deswegen im Stillen Vorwürfe:
Martin hatte durch meine Berufstätigkeit und Krankheit fast alles verloren, was er im zweiten Kindergartenjahr errungen hatte an Entwicklung und Verhaltensbesserung. Er war so gestört wie eh und je. Und Markus? Markus war so wie immer. Er hatte alle Ängste und seinen Kummer in seinem kleinen Herzchen vergraben und benahm sich „normal“. Ich bemerkte nicht, was er an Belastung trug, ich war noch zu sehr mit mir selber beschäftigt.
Armer lieber kleiner Markus !
Armer lieber Markus, armer lieber Martin und armer lieber „Blödmann“ – und vor allem: arme liebe Mira!!!!
Die Zeit im Sonderkindergarten, die trotz aller Probleme der Familie vor allem Martin auch Halt und Geborgenheit vermittelt hatte, ging langsam zu Ende. Angst vor der Zukunft machte sich breit:
Martin weinte leise, als er hörte, dass er in eine „Schule mit Bett“ kommen würde. Er hatte seine Hoffnung auf die Sprachheilschule gesetzt.
Er sagte: „Es war nur ein schöner Traum.“
Es brach mir das Herz.
Fortan wurde unser Alltag wieder zum Albtraum. Martin machte viel Spielzeug kaputt, machte Tag und Nacht unter sich, so dass ich ihn wieder wickeln musste.
Nicht nur Martin stank, die ganze Wohnung stank wieder!
Den ganzen Sommer über machte er „Terror“, auch die liebe geduldige Busbegleiterin war am Ende ihrer Nerven, den Erzieherinnen erging es nicht besser. Zum anderen hatten die Behörden uns nun im Griff.
Vorschriften! Ämter! Psychiater! Gutachten! Anträge! Sozialarbeiter!
Der 25. Juni war sein letzter Kindergartentag. Für uns kein Tag der Freude. Alle seine Kameraden hatten einen Ort, den sie von nun an besuchen würden. Nur Martin nicht.
Was würde die Zukunft bringen?
Ja, was brachte die Zukunft? Gebannt las ich weiter. Nach einer monatelangen Suche seitens des zuständigen Sozialarbeiters bekam der Junge letztlich einen Platz in einer Außenwohngruppe einer Stiftung für behinderte Kinder und Jugendliche. Doch es stellte sich heraus, dass die dazugehörige Schule doch mehr auf schwer erziehbare Kinder ohne Behinderung ausgerichtet war, und in der Wohngruppe war er mit Abstand der Jüngste. Es lief wohl nicht wirklich gut für ihn dort. Frau Mertens gab ihren ambivalenten Gefühlen Ausdruck mit folgenden Worten:
Martin ziehen zu lassen, war gleichermaßen schmerzlich wie erleichternd für uns. Wie still es plötzlich war und wie sehr ich diese Ruhe genoss – und gleichzeitig schämte ich mich sehr für meine Erleichterung. Da fühlte ich sehr ambivalent. Für Markus war es hart. Erst zog die Oma weit weg zu ihrem Lebensgefährten, dann ging der kleine Bruder und Spielkamerad „weg“. Aber auch er entspannte sich zunehmend mit der Zeit, hatte mehr Appetit, lachte mehr und genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit und Zuwendung seiner Eltern. Es war so schön, „draußen“ im öffentlichen Leben ganz unauffällig sein zu können. Kein Geschrei, kein Aufpassen müssen, keine Konflikte, sich konzentrieren können auf das, was man selber sehen und erleben wollte. Kein Türen knallen, keine Kindertränen, kein Wutgebrüll, keine Scherben. Die eigenen Gedanken hören können!
Mir wurde klar, dass wir es regelrecht verlernt hatten, selber im Mittelpunkt unseres Lebens zu sein. Nicht Martin
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