Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
Nach zwei Schuljahren gab es einen Lehrerwechsel. Für Martin die Katastrophe schlechthin. Der Neue machte ihm ungewollt Angst, weil er mehr auf Leistung und Gehorsam setzte und einen gegensätzlichen Unterrichtsstil hatte. In den Monaten von Schuljahrsbeginn bis zum Dezember baute sich in Martin eine große innere Spannung auf, schrieb Frau Mertens. Das gipfelte darin, dass er eines Tages in eine Psychose rutschte!
Oh nein, wie furchtbar, dachte ich. Atemlos vor Anspannung las ich weiter. Die Psychose äußerte sich darin, dass er auf dem Weg zur Schule „große Spinnen sah, die ihn bedrohten“. In Wahrheit sah er große Kastanienblätter. Die Bushaltestelle lag neben einem kleinen Park. Gutes Zureden half natürlich nicht. Der Lehrer und der Schulleiter zeigten kein Verständnis für die Ängste des Kindes. Es blieb den Eltern nichts anderes übrig, als den Jungen vom Hausarzt „krankschreiben zu lassen“. Gegen das ärztliche Attest kam die Schule nicht an.
Eigentlich sollte Martin nach den Weihnachtsferien wieder zur Schule gehen.
Aber am Abend vorher erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Er schrie all seine Angst und Not aus sich heraus und klammerte sich an mich und bat mich inständig, ihn nie wieder in diese Schule zu schicken. „Alles“ würde ihn dort ängstigen und es sei so entsetzlich laut.
Ich war erschüttert und gab ihm mein Versprechen.
„Mama, du bist mein Engel auf Erden!“
Ich weinte leise und bat Gott um einen Engel für mich selbst, damit ich dem Kinde gerecht werden konnte!
An dieser Textstelle brach ich gemeinsam mit Frau Mertens in Tränen aus. Gott, ging mir das nahe! „Martin, mein kleiner unbekannter Freund“ dachte ich, „ deine Mama ist mir auch ein Engel in der Not gewesen!“ Ich schniefte eine Weile und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Das Buch legte ich zur Seite und ging in die Küche. Irgendwas „Schönes“ brauchte ich jetzt. Ich stöberte in den Hängeschränken und fand nichts, was mich wieder etwas aufbauen würde. Bis ich das Kakaopulver entdeckte! Okay, dann würde ich mir jetzt also einen Kakao mit Milch und Zucker kochen. Während ich im Topf rührte, klingelte es an der Tür. Ich machte auf und vor mir stand ein Postbote mit einem Einschreiben, dessen Empfang ich schriftlich bestätigen musste. Es war von Hardy. Nicht zu fassen, was wollte der denn? Dann fiel mir mein Kakao ein, den ich im letzten Moment vor dem Anbrennen und Überkochen retten konnte.
Nicht zu fassen, Hardy – nein, ich korrigierte mich: „Meinhardt, der Verräter“ verlangte von mir, ich solle seine persönlichen Sachen einsammeln und über den Teich schicken.
„Ich denke ja gar nicht daran, du Schurke“, grollte ich. In die Mülltonne damit wäre mir lieber!“ Das Einschreiben warf ich in den Abfall. Sollte er doch sehen, wie er an seine Sachen kam. Es kann sich ja sein Vermieter darum kümmern, wenn ich erst mal ausgezogen bin. „Wird langsam Zeit, dass ich mich um eine neue Bleibe kümmere“ dachte ich. Ich runzelte meine Stirn. Hm, es wurde tatsächlich langsam Zeit! Darüber hatte ich noch nicht ernsthaft nachgedacht.
Auf den Schreck mit dem Einschreiben hin beschloss ich, mir etwas besonders Gutes zu tun, kippte einen Schuss Rum in meinen Kakao, setzte noch eine Haube aus Sprühsahne darauf und bestreute diesen mit bunten Zuckerstreuseln. Mit diesem kulinarischem Schätzchen ging ich wieder auf den Balkon.
Als ich die Stelle wiedergefunden hatte, las ich, dass Martins Zustand einen Besuch bei einem Kinder- und Jugendpsychiater nötig machte. Damals gab es nur sehr wenige Ärzte dieser Fachrichtung. Die Anreise war weit. Es war ein Wendepunkt, danach hatte die Familie endlich Klarheit über die Art der Behinderung. Frau Mertens schrieb:
Die wichtigste Erkenntnis erbrachte der Persönlichkeitstest.
Wie ich es schon seit langem vermutete, Martin hatte eine autistische Grundstruktur! Er war ein sogenannter Asperger-Autist.
Ich war plötzlich hellwach und „erfreut“ – endlich bekam ich eine ärztliche Bestätigung dessen, was ich schon lange im Stillen gewusst hatte. Mehrmals hatte ich diesen Gedanken schon vorgebracht in Gesprächen mit „Fachleuten“, die mit Martin zu tun hatten, aber immer wurde ich nur belächelt. Jetzt hatte das ein Ende. Jetzt hatten wir es „Schwarz auf Weiß“.
Wir sprachen über Martins Verhaltensweisen im Baby- und Kleinkindalter, die autistisch anmuteten. Zum Beispiel das Spielunvermögen (nur Sortieren, bzw. Umherwerfen,
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