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Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)

Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)

Titel: Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlies Lüer
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dominierte den Tag, sondern unsere eigenen Wünsche, Möglichkeiten und Bedürfnisse. Verblüffende Erkenntnisse! Ja, es war eine Wohltat.
    Bei aller anfänglichen Erleichterung beschrieb sie aber auch Tage, an denen sie „litt wie ein Tier in der Falle“ und sich vor Schmerzen krümmte und innerlich schrie „…gebt mir mein Kind zurück, ich will es nicht verlassen!“, so sehr sehnte sie sich nach dem Jungen.
    Dieser hatte auch massive Probleme mit der Umstellung:
    In den Osterferien zeigte Martin dann, wie er sich fühlte, wie er uns gegenüber fühlte!!!!
    Er riss Tapeten von den Wänden, zerfetzte seine Bettwäsche, zerstörte Spielzeuge und machte uns das Leben zur Hölle. Die Wohnung stank wieder nach Urin und Kot und wir waren erleichtert und froh, als die drei Wochen vorbei waren und wir ihn wieder im Heim abgeben durften.
    Nein, die Trennung fiel uns diesmal nicht schwer, definitiv nicht! Wie beschämend! Oder doch nicht?
     
    Ich konnte das kaum lesen, es ging mir sehr nahe. Doch ich wollte nun auch wissen, was noch alles geschehen würde – das Buch war sehr dick! Also las ich gebannt weiter. Nach einiger Zeit gewann die Familie an Kraft, zog in eine andere Stadt, in eine große Wohnung mit Terrasse. Jedes Kind hatte dort sein eigenes Zimmer, was Martin an den Besuchswochenenden begeistert bewohnte. Und als ein Jahr vergangen war, fasste die Familie den Entschluss, den Jungen wieder nach Hause zu nehmen und neu zu beschulen. Denn es hatte einige Vorkommnisse in der Wohngruppe und der dazugehörenden Schule gegeben, die das Vertrauen der Eltern zerstörten.
    In der neuen Stadt erfolgte schließlich eine Beschulung in der hiesigen Lernbehindertenschule, die nach kleineren Anlaufschwierigkeiten sogar guten Erfolg zeigte! Ich fühlte beim Lesen eine richtige Erleichterung, so sehr war ich inzwischen gefühlsmäßig involviert. Meine „Journalistenbrille“ hatte ich viele Seiten vorher schon abgesetzt, ich konnte die Geschichte nicht ohne mein ganzes Herz lesen. Eine Stelle gefiel mir besonders gut und heiterte mich auf:
    Nach Abschluss der Überprüfung kam ein Sonderschullehrer zu uns und begann das Elterngespräch mit den Worten: „Mir hat eine Überprüfung noch nie so viel Spaß gemacht!“ Spaß? In unseren Augen standen große Fragezeichen.
    „Mir ist in meiner Tätigkeit als Prüfer noch nie ein Kind begegnet, das dermaßen vor Intelligenz und Lebendigkeit gesprüht und die Aufgaben in so kurzer Zeit erledigt hat!“
    Intelligenz?
    Er zeigte uns die Testbögen, die fast fehlerfrei ausgefüllt waren. Er präsentierte sie voller Stolz und Freude, so als wäre Martin sein Junge.
    (Ich mochte diesen Mann!!!)
    Die Auswertung hatte ergeben, dass Martin überdurchschnittlich intelligent war!
    Überdurchschnittlich.
    Intelligent.
    Wir wussten nicht, sollten wir jetzt lachen oder weinen...?
    Dieses Hü und Hott ! Warum konnte unser Junge dann nicht auf eine richtige Schule gehen?
    Martin hatte einen Lernbehinderten-IQ von 127. Das entsprach einem Grundschüler-IQ von 115.
    Der Sonderschullehrer brannte darauf, uns eine Anekdote aus der Überprüfung zum Besten zu geben: In einem Bildertest (Omnibus, Windrad, Pistole und Zahnrad) wurde die Frage gestellt:
    „Welches davon ist ein Beförderungsmittel?“
    Martins Antwort war: „Pistole“! (das war natürlich „falsch“, wenn man die Welt auf die übliche Art sah)
    „Wieso denn das, erklär mir das einmal!“
    Martin: „Na, die Pistole befördert einen Menschen vom Leben zum Tode!“
    Wir mussten alle herzlich lachen.
     
    Und ich lachte auch befreit auf. Den kleinen Burschen hätte ich gern kennengelernt! Und auch seinen großen Bruder, der so viel an elterlicher Zuwendung entbehren musste, weil der behinderte Bruder alle Kraft absorbierte.
    Frau Mertens berichtete dann vom neuen Schulalltag und wie sehr sie die Lehrerin seiner Klasse zu schätzen wusste, denn diese zwang Martin nicht zur Teilnahme an neuen Inhalten oder Tätigkeiten, sie ließ ihn zuschauen und „langsam näherkommen“. So konnte er sein Tempo selber bestimmen und es dauerte nur wenige Monate, dann war er voll in die Klasse integriert und lernte, so gut er konnte. Er gehörte sogar zu den besten Schülern dieser Lernbehindertenklasse. Anfangs wurde er mit einem Schülertaxi gebracht und geholt, später dann konnte er allein mit dem Bus fahren. Ein Stück Normalität! Es war eine recht gute Zeit für die Familie. Dann aber kündigte sich eine Veränderung seitens der Schule an.

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