Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
intensiv wahr. Hatte Mira ihr nicht gesagt, ihr Geistführer (oder hatte sie Engel gesagt?) würde wie eine frische Meeresbrise duften und funkeln? Konnte sie ihn hier auf der Insel wahrnehmen?
Möglich, dass er gerade für sie sang. Johanna verspürte bei diesem Gedanken eine tiefe Freude und neue Seelenruhe. Sie gab sich ganz diesem Moment hin und fühlte Geborgenheit und einen Willen zum Leben. Jeden Tag einzeln leben, auch sinnlich er-leben, Salz auf der Haut und den Wind im Haar, welch ein Genuss dies doch sein würde! Einfach auf den Wellen der Trauer und Liebe reiten, bis sie verebben. Das wollte sie versuchen. Sich jeden Tag aufs Neue in die Wasser des Lebens stürzen und nicht untergehen, sondern obenauf schwimmen und sich an neue Ufer tragen lassen!
Sie wusste, dass alle ihre Lieben in ihrem Herzen eine Wohnstatt in alle Ewigkeit hatten. Liebe! Da war so viel Liebe. Ist Liebe das Licht?
Mehr noch, sie fühlte es endlich, nach all den Jahren.
Johanna schlug das kleine Buch wieder auf und las Miras Worte, durchlebte mit ihr deren ganz eigene Suche nach dem Licht in der Dunkelheit des Krebstodes ihres Sohnes und wie sie es unter anderem auch in der Schönheit der Welt wiederfand. Sie schrieb als Nachwort:
Heute Morgen, als ich mit meinem Hund über die Wiesen und Felder ging, hatte ich ein poetisches Erlebnis.
Ich sah, dass unzählige der Gräser und Kräuter mit Spinnweben überzogen waren, benetzt mit Taukügelchen, wie eine Perlenkette ohne Ende.
Die Sonne schien mir in die Augen und brachte dieses Gräserfeld zum Funkeln, schöner als eine künstliche Weihnachtsbeleuchtung es jemals sein konnte. Veränderte ich aber meinen Standpunkt, meinen Blickwinkel – nur eine kleine Körperdrehung – dann war die Pracht dahin, nicht mehr sichtbar. Drehte ich mich wieder zurück, so dass die verwobenen Gräser wieder in einer Linie mit der Morgensonne lagen, dann war die Pracht wieder sichtbar.
Die Schönheit und Erhabenheit des Lichtes in der Materie vergeht nicht, auch wenn wir im Moment außerhalb des perfekten Standpunktes sind.
Die trockenen Gräser, bereit für den Verfall und den Winterschlaf, bekamen so eine wahre Pracht, die sie als frisches Sommergrün nicht haben konnten.
Und so ist es auch mit uns Menschen, mit unserem Leben.
Gottes Licht und Liebe ist immer da, selbst wenn wir das in dunklen schmerzlichen Lebenstagen nicht wahrnehmen können.
Auf die Existenz des Lichtes, der Schönheit, der Sinnhaftigkeit können wir vertrauen!
Ich habe es selber so erlebt, damals.
Jetzt kann ich es in Worte fassen.
Dank eines schlichten Hundespaziergangs an einem sonnigen Herbstmorgen im Oktober.
Johanna schloss getröstet das Buch und griff dann zu ihrem Zeichenblock und dem heißen Tee. Die kommende Nacht würde eine gute Nacht werden, das spürte sie. Ihr Schlaf würde leichter sein. Und wenn sie es wirklich wollte, würde auch ihr restliches Leben gut und leichter sein.
Novembertage
Anfang November war Mira sich immer noch unschlüssig, ob sie Teil des Hospiz-Workshops sein wollte oder nicht. Obwohl nun schon so viele, viele Jahre ins Land gegangen waren, seitdem ihr Martin diese Welt verlassen hatte, waren die damaligen Ereignisse immer noch dicht unter ihrer Seelenhaut. Sie spürte kein Verlangen, alte Wunden aufzureißen, damit andere Einblick in intime Seelenräume nehmen konnten. Sie wusste, würde sie sprechen, würde ihre Stimme bald anfangen zu zittern; würde sie Fragen im direkten Augenkontakt beantworten müssen, von Mensch zu Mensch, dann würde alles wieder in ihr lebendig werden. Die schützende Zeitspanne würde zu einem papiernen Nichts zusammenschrumpfen und sie dem alten Schmerz ausliefern.
Andererseits wollte sie sich den Lernenden nicht verweigern. Sie wusste ja selber, wie wichtig eine gute Ausbildung für Sterbebegleiter war, vor allem wenn sie keine eigene Trauererfahrung hatten.
Mira blickte hilfesuchend durchs Fenster zu Thaddäus, der im kalten Garten stand. „Was meinst du dazu?“ Diesmal sagte er nichts, sondern zuckte nur kurz mit seinem Drachenschwanz. Mira sah, wie eine große Feder vom Wind herumgewirbelt wurde. Sie wurde für einen kurzen Moment an seinen Flügel gedrückt, so dass es aussah, als würde Thaddäus eine Schreibfeder halten. Dann riss der Wind sie mit sich fort.
Feder. Schreibfeder. Natürlich! „Danke Thaddäus. Du hast doch immer wieder gute Ideen, mein lieber Freund!“
Mira wusste nun, wie sie ihr Problem lösen
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