Mischpoche
ihn davon, dass diesem an der Beantwortung seiner Frage mehr gelegen war als an allfälligen verbalen Geplänkeln. »Ich kann dich beruhigen, so eine ist nicht darunter. Und jung waren überhaupt nur zwei Männer …«
»Und die Verwundeten? Wohin wurden die gebracht?«
»Du, das weiß ich jetzt aber wirklich nicht. Die werden s’ wahrscheinlich auf die diversen Spitäler aufgeteilt haben, nehme ich an. Aber warum …«
»Du, Ferdinand, keine Zeit für Erklärungen. Ich sag’ dir alles, wenn ich wieder einen Überblick hab’. Bis dahin sag’ ich einfach nur danke.«
In den nächsten Stunden hätten Mörder gute Chancen gehabt, mit ihren Verbrechen davonzukommen, denn Bronstein tat nichts anderes, als in sämtlichen Wiener Krankenhäusern nach der Identität der dort eingelieferten Verletzten zu fahnden. Gegen 8 Uhr abends wusste er die Namen von 72 Demonstranten, die sich immer noch in der Obhut eines Spitals befanden. Die übrigen, hieß es, seien nicht so schwer verletzt gewesen, sodass sie in der Zwischenzeit entlassen werden konnten. In polizeilichem Gewahrsam, so hatte er weiter in Erfahrung gebracht, befand sich niemand von denjenigen, die an den Aktionen rund um den 15. Juni teilgenommen hatten. Doch angesichts der Bilanz konnte man wohl davon ausgehen, dass die Sicherheitskräfte von Anfang an die Order ›Keine Gefangenen‹ ausgegeben hatten. Bronstein wusste nicht, ob er nun aufatmen sollte oder nicht. Jelka war weder unter den amtlich festgestellten Toten noch unter den Verwundeten. Allerdings war anzunehmen, dass sie nach einem solchen Massaker kaum nach Hause gegangen war. Wo also sollte er sie suchen?
»Ich weiß, Chef, warum du so dreinschaust«, hörte er plötzlich Pokorny sagen, der, ungeachtet der späten Stunde, noch einmal ins Büro gekommen war. »Aber keine neue Welt wird ohne Schmerzen geboren. Solche Eruptionen gehören halt dazu. Wirst sehen, das wird sich alles einspielen, und dann geht keiner mehr auf den anderen los, dann verläuft wieder alles in geordneten Bahnen.«
Bronstein war nahe dran, Pokorny sein Herz auszuschütten und ihm zu gestehen, dass es ihm nicht um die fragwürdigen Geburtswehen der Republik, sondern nur um seine Jelka ging, doch er schreckte schließlich doch davor zurück.
»Na siehst«, deutete Pokorny Bronsteins Schweigen als Zustimmung zu seinen Thesen, »es wird wieder aufwärts gehen. Jetzt kommen andere Zeiten, in die wir mit Optimismus schreiten.«
»Pokorny, deine Reime überzeugen mich nicht unbedingt. Aber schreiten werd’ ich jetzt auch, und zwar nach Haus’.«
Die ganze Nacht über machte Bronstein kein Auge zu. Unentwegt dachte er an Jelka. Es mochte ja sein, dass die neue Zeit endlich Frieden, Wohlstand und Freiheit brachte, doch ihm wäre es weit wichtiger gewesen, sie hätte ihm Jelka gebracht. In den folgenden Tagen recherchierte er während der Dienstzeit eifrig alle Berichte, die zum vermeintlichen Kommunistenputsch eingelangt waren, stets auf der Suche nach einem Hinweis auf Jelka, während er nach Dienstschluss jeden Ort aufsuchte, an dem Jelka schon einmal gewesen war. Beide Tätigkeiten brachten ihn seinem Ziel keinen Millimeter näher. Und während sich die Kollegen in Elogen auf die Republik ergingen, wurde Bronstein mit jeder Stunde, die ergebnislos verstrich, mutloser.
1920: Jung und Alt
Bronstein malte mit Hingabe einige Schnörkel rund um seine Unterschrift und schloss sodann lächelnd den Aktendeckel. Es war ein befriedigendes Gefühl, einen Fall als gelöst ins Archiv befördern zu können. Denn ein Fall war nicht bloß ein Bündel Papier. Das waren ganz konkrete menschliche Schicksale, die auf tragische Art miteinander verwoben waren. Löste man also einen Fall, dann brachte man immerhin einen Hauch Gerechtigkeit in die Welt, wenn man schon nicht für Wiedergutmachung sorgen konnte. Ein Ermordeter wurde zwar nicht mehr lebendig, aber der Bösewicht, der ihm das Leben genommen hatte, wurde wenigstens seines eigenen Lebens auch nicht mehr froh, was für die Angehörigen des Opfers vielleicht ein kleiner Trost sein mochte. Und als Polizist hatte man leidenschaftslos an die Sache heranzugehen. Die Tatsachen allein zählten. Es oblag den Geschworenen, die Fakten einer Bewertung zu unterziehen. Natürlich hatte man auch als Ermittler eine Meinung zu den Dingen, doch die war privater Luxus und hatte auch privat zu bleiben. Mitunter kam es vor, dass eigentlich das Opfer der Böse war und seinen Mörder durch
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