Miss Emergency
Studentenkneipen auf dem Gang zum Klo hängen. Zum Beispiel das: Ein Saxofonspieler steht in der Morgendämmerung auf einer verlassenen StraÃenkreuzung, Hochhausfassaden spiegeln sich inden schwarzen Gläsern seiner Sonnenbrille, er selbst spiegelt sich in einer Pfütze. Oder dies hier: vier Freundinnen auf dem Weg zum Brunch, beieinander eingehakt, flankiert von riesigen, bonbonbunten Tragetaschen voller neuer Schuhe, in denen kein Mensch laufen kann. Noch so ein Klassiker: Audrey Hepburn mit Perlenkette und Hochsteckfrisur trägt einen Pappbecher über die 5 th Avenue spazieren. Ich setze meine Kopfhörer auf, suche nach dem Kanal Pop Classics und finde ein Lied, das ich kenne. Die Musik passt zu dem Film in meinem Kopf.
What about breakfast at Tiffanyâs?
Ich mache die Augen zu, stelle die Lehne zurück, drehe die Lautstärke auf und fühle mich frei. Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich tun, was ich will. Niemand wird mich fragen, wann ich nach Hause komme und mit wem, ob ich schon gegessen habe und ob ich, verdammt noch mal, endlich mal meine Kopfhörer absetzen kann, weil man, verdammt noch mal, gerade mit mir redet. Aber wenn ich sie dann wirklich absetze und die Musik über die Lautsprecher laufen lasse, ist es auch wieder nicht recht. Weil garantiert zu laut.
Die Marienkäferfrau tippt mich an. »Könnten Sie mal die Musik leiser stellen? Dieses Gewummer geht ja durch und durch!«
Ach ja, ich vergaÃ: Manche Leute meckern sogar über beides gleichzeitig. Kopfhörer und Lautstärke.
Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass mich Leute siezen. Solange ich denken kann, waren Die Erwachsenen immer die anderen: Lehrer, Eltern, Freunde von Eltern. Auf einmal gehöre ich selbst zum anderen Lager. Seit 14 Monaten darf ich Auto fahren, eine Firma gründen oder den Bundeskanzler wählen. Meine Freundinnen bezeichnen sich nicht mehr als Mädchen , sondern als Frauen . Es gibt auch keine Jungs mehr, sondern die Männer . Keiner dieser Begriffe passt mir. Worte wie T-Shirts, in einer GröÃe zu eng, in der nächsten zu weit.
An meinen Nachnamen kann ich mich auch nicht gewöhnen. Wenn jemand Frau Ritter ruft, drehe ich mich um und schaue, ob irgendwo meine Mutter steht. Auch so ein Wort, in das ich erst hineinwachsen muss.
Ich setze die Kopfhörer ruckartig ab, denn ich möchte ungern in mehreren Tausend Metern Höhe mit einer 150-Kilo-Frau streiten. SchlieÃlich muss ich es noch ein paar Stunden neben ihr aushalten. Im gleichen Moment merke ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Einen gewaltigen. Anscheinend hat meine Reaktion sie milde gestimmt. Jetzt lächelt sie sogar! Wahrscheinlich tut es ihr leid, dass sie mich so angefahren hat. Und jetzt will sie sich auch noch unterhalten.
»Na, auf dem Weg in den Urlaub?«, fragt sie und streckt mir die Hand entgegen. Ihre Fingerknöchel sind kleine Grübchen im Fleisch.
Ich atme tief ein und wieder aus. Also gut. SchlieÃlich habe ich darauf gewartet, dass jemand diese Worte zu mir sagt. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir den Fragestellerzwar etwas glamouröser vorgestellt als meine gepunktete Reisebekanntschaft, aber man kann sich sein Publikum nicht aussuchen.
Jedenfalls weià ich schon ganz genau, was ich antworten werde. Und jetzt probiere ich meinen Satz zum ersten Mal aus.
»Nein«, sage ich, »ich werde eine Zeit lang in New York leben.«
Der Satz hört sich gut an. Sogar noch besser als zu Hause vor dem Spiegel. Zugegeben, eine Zeit lang klingt nach mehr als den vier Wochen, um die es in Wirklichkeit geht. Aber gelogen ist es nicht.
Sie sieht mich mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier an.
»Sie haben Verwandte in Amerika?«, hakt sie nach.
»Nicht direkt.«
»Und was haben Sie dann dort vor?«
Ich stelle die Lehne noch ein Stück zurück, um besser an ihr vorbeisehen zu können.
»Leben«, wiederhole ich und fahre mir mit der Hand durchs Haar.
»Und Ihre Eltern zahlen das?«
Ich kann mir schon denken, was als Nächstes kommt. Also, wenn Sie meine Tochter wären ⦠Aber sie bleibt still. Hat ihr wohl die Sprache verschlagen.
Ich schlieÃe die Augen und täusche ein Nickerchen vor. Dabei denke ich an meinen Vater. Ohne ihn säÃe ich nicht hier.
Zum ersten Mal haben wir im April über New York gesprochen, ein paar Wochen vor den letzten Abiklausuren. Wir saÃen in einem Lokal im
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