Miss Emergency
über Berlin im Oktoberwetter, ein letztes tiefes Durchatmen, dann mache ich mich auf den Weg.
Die Prüfung findet am Patientenbett statt. Ich muss einen Patienten befragen und körperlich untersuchen, den Bericht schreiben und dann eine mündliche Probeprüfung anhand dieses Patienten bestehen. Ich bekomme eine junge Frau mit einer Rippenfellentzündung. Sie ist etwas ängstlich und irgendwie führt das dazu, dass ICH überhaupt nicht mehr nervös bin. Mitten in der Untersuchung sagt plötzlich die Stimme in meinem Bauch: »Das ist jetzt dein Leben.« Ich könnte überschnappen vor Freude und Stolz. Noch nie habe ich mich so nah dran gefühlt. Das ist das erste Mal, dass ich es glauben kann. Ich, Lena, bin Ãrztin. Jetzt wird wohl nichts mehr dazwischenkommen. Das wirdmein Leben sein und es wird wunderbar. Als ich der Patientin die Ergebnisse mitteile, nennt sie mich Frau Doktor. Ich korrigiere sie und sehe meine Vorgesetzten lächeln.
Jetzt nur noch den Patientenbericht und die mündliche Prüfung. Ein kurzer Blick zu meiner Kitteltasche. Er ist da; mein treuer Gefährte, mein zuverlässiger Glückskuli. Es kann nichts schiefgehen. Und wirklich: Nach den vorgeschriebenen drei Stunden bin ich mit dem Patientenbericht wieder da.
Das mündliche Probeexamen bei Dr. Ross und Dr. Thalheim läuft wie am Schnürchen. Ich habe bei jeder Frage die vorhergegangene sofort vergessen. Aber die Antworten sind wohl alle korrekt. Die beiden nicken einander zu und ich hole endlich Luft. »Vielen Dank«, sagt Dr. Ross. Sie schüttelt mir die Hand und wünscht mir Glück für die nächste Station. Dann bin ich fertig. Es bleibt nur noch, meinen Freundinnen die Daumen zu drücken.
Noch einen Kaffee bei Ruben â der mir ja zum Glück nicht verloren geht, weil ich auch im nächsten Tertial auf das Cafeteria-Essen angewiesen bin und sicherlich auch des Ãfteren auf seine Privatversorgung zurückgreifen muss. Ruben warnt mich schon mal vor: Die Chirurgen haben unmögliche Essenszeiten, vielleicht legt er mir sicherheitshalber ein eigenes Kühlschrankfach an.
»Ruben?«, frage ich mutig, weil ich mir plötzlich so erwachsen und abgeklärt und unbesiegbar vorkomme. »Magst du eigentlich Männer oder Frauen?«
Er überlegt einen Moment. »Im November«, sagt er dann, »werde ich mich unsterblich verlieben. Dann finden wir es raus.«
Und dann ist es Zeit für den Abschiedsbesuch in Dr. Thalheims Büro. Ich bedanke mich für die Zeit auf seiner Station und alles, was ich hier lernen durfte. Dr. Thalheim überreicht mir den Auswertungsbogen meines Probeexamens und erklärt, was ich für das richtige Examen verbessern kann. Und was er mir für das nächste Tertial wünscht. Und ich höre ihm plötzlich überhaupt nicht mehr zu, denn auf einmal stehe ich so, dass ich den verschnörkeltenBilderrahmen auf seinem Schreibtisch sehen kann. In dem Rahmen ist keine Frau. Auch kein Kind, kein Hund, überhaupt kein Foto. Nur ein Spruch: »Und hier ist der Mittelpunkt der Welt.« Und genau das ist mein Gefühl. Jetzt und hier. Wir beide.
Dr. Thalheim tritt näher. »Passen Sie auf, Fräulein Weissenbach! In der Chirurgie ist das Klima etwas rauer«, sagt er lächelnd. »Und es wird viel weniger geredet.«
Ich sehe ihm in die Augen und sie sind warm und strahlend. Und sie sehen überhaupt nicht mehr weg. Es ist, als ob er mich noch nicht gehen lassen möchte. Irgendwann könnte mir jemand einen Schubs geben. Ich kann mich sonst nicht bewegen. Ich werde hier vor ihm stehen bleiben bis ans Weltende. Denn ich kann mich einfach nicht aus diesem Blick lösen.
»Was macht Ihr Freund?«, fragt Dr. Thalheim etwas leiser. »Er holt Sie niemals ab â¦Â«
Ich zucke mit den Schultern, ohne den Blick abzuwenden. »Ich hoffe, er holt eine Size-Zero-Jeansverkäuferin aus dem Fitnessstudio ab.«
Dr. Thalheim lächelt sanft. »Passt auch viel besser zu ihm als so eine komplizierte, schrullige Ãrztin.«
Und zu wem passt die? Frag, Lena, jetzt oder nie! Nein! Auf keinen Fall! Du gehst jetzt! Sofort!
Ich weià nicht, wie es passiert. Etwas fällt runter, gerade als ich eine entschlossene Bewegung mache, um mich aus seinem Blick zu lösen. Um zu gehen. Es klappert auf dem Boden. Mein Glückskuli. Ich will ihn aufheben und strecke die Hand aus â als Dr.
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