Miss Emergency
den Touristen die richtige Richtung weisen kann, und nicht mehr nur mit vorgetäuschter Sicherheit irgendwohin zeige und dann schnell weitergehe, ehe jemand den Irrtum aufklärt. (Ich weià nicht, wie viele Pfälzer und Japaner meinetwegen trostlose Nachmittage im Westend verbracht haben, statt den Reichstag zu besichtigen â aber es hat sich so gut angefühlt, für eine Berlinerin gehalten zu werden.) Mittlerweile kenne ich die Stadt, so gut man das nach einem Vierteljahr eben kann. Ich weiÃ, wo sich die S- und U-Bahnen treffen. Ich habe mich an den furchtbaren Gestank gewöhnt, der im Bahnhof Alexanderplatz die Unterführung zur U2 verpestet. Ich kann in teuren Charlottenburger Cafés die Einheimischen von den Touristen unterscheiden. (Die Charlottenburger haben richtige Frisuren. Die, bei denen die Haare einfach so runterhängen, sind Touristen.) Ich kenne sogar ein paar Berliner Originale â traurige, wie die Frau mit dem kaputten Rucksack und den Kleinmädchenzöpfen, die immer von ihremGroÃvater erzählt, und lustige, wie den Jungen, der in der S-Bahn zur Fahrgastunterhaltung mit Löffeln auf einen Topf schlägt. Und wenn ich abends nach Hause komme, winkt der Mann aus dem Spätshop an der Ecke und trägt mir GrüÃe an meine schönen Freundinnen auf.
Bei uns zu Hause hat sich nicht viel verändert. Es gibt immer noch keine Spülmaschine. Der Lerneifer ist noch schlimmer geworden. Und wie Jennys aktueller Freund heiÃt, muss man sich jede Woche neu einprägen. Isa ist natürlich treu und immer noch verliebt wie am ersten Tag. Manchmal ist das fast schwer mitanzusehen. Bei mir hat sich nämlich in Liebesdingen nichts getan. Vier Wochen lang nicht.
Auch im Krankenhaus sind vier Wochen eine lange Zeit. Die meisten Patienten haben gewechselt. Herr Schwendler hat mir zum Abschied fast mehr gute Ratschläge gegeben als ich ihm. (Und während meine nur einen herzschonenden Lebenswandel betrafen, umfassten die seinen auch praktische Dinge wie den Umgang mit Taxifahrern und warum man städtischen Schwimmbädern nicht trauen sollte.) Im Aufenthaltsraum hängt eine Postkarte von Isas Pferdemädchen. Sie und ihr Dakota sind schon wieder auf Turnieren unterwegs. Andere Patienten verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Aber wer denkt schon gerne ans Krankenhaus zurück ⦠Manche sind auch nach vier Wochen noch hier. Frau Klein ist von der Intensivstation zurück und erholt sich bei uns von den letzten Wehen ihrer schweren Lungenentzündung. Sie ist immer noch sehr bescheiden, befürchtet regelmäÃig, wir hätten uns finanziell ruiniert, weil wir »viel zu viele Blumen für so eine alte Frau« gekauft haben, und entschuldigt sich immer mal wieder dafür, dass ich so anstrengende Dinge tun muss wie ihren Blutdruck zu messen. Aber manchmal merkt sie es selbst und muss über sich lachen. Ich werde sie schrecklich vermissen, wenn ich sie endlich entlassen darf. Jennys Patientin Paula Schwab hat die operationsvorbereitende Chemotherapie überstanden. Sie hat schreckliche Angst vor der OP. Ich weià es, auch wenn sie nur mit Jenny darüberredet und uns gegenüber grobe Bemerkungen über die Vorteile eines Lebens ohne Magen macht.
Jenny hat sich verändert. Nicht auÃerhalb der Klinik. Aber hier auf der Station ist sie inzwischen regelrecht beliebt. Nur ihre Feindschaft mit Schwester Klara pflegt sie hingebungsvoll. Niemand kann so herrlich arrogant sein wie Jenny. Isa ist diese Fehde sehr unangenehm. Doch Jenny ist streng und erwartet Loyalität. Ich selbst nehme mittlerweile routiniert neue Patienten auf und brauche an guten Tagen auch mal nur 29 Minuten. Wir haben Chefarztvisiten überstanden und Notfälle versorgt und brauchen den Damenwaschraum nur noch zum Lernen und schon lange nicht mehr zum Heulen. Allzu lange sollte ich jetzt auch nicht mehr hier sitzen bleiben. Muss ich aber auch nicht. Ich kann ja alles.
Marie-Luise kommt aus dem Klo und zieht sich vor dem Spiegel die Lippen nach. Es ist ihr letzter Tag auf der Inneren, ihr PJ ist zu Ende. »Tschüss«, sagt sie grob in meine Richtung. Ein angemessen herzlicher Abschied für unser kühles Verhältnis. Nö, ich muss immer noch nicht mit allen Freund sein. Auf Marie-Luise und Paul wartet das Hammerexamen. Auf Isa, Jenny und mich wartet das nächste Tertial. Chirurgie. Aber vorher das Probeexamen. Jetzt. Ein letzter Blick
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