Miss Emergency
Und brauche über eine Stunde. Immer wieder muss ich nachschlagen. (Von wegen, Lena, du MUSST nicht! Du kontrollierst völlig übertrieben, nur weil du dir wieder selbst nicht traust. Dauernd schlägst du Begriffe nach, die du ganz richtig verwendet hast. Aber ich kenne das Prinzip: Den einzigen Fachbegriff, den ich nicht noch mal nachschlage, habe ich garantiert auf peinlichste Weise falsch geschrieben.) Ich sitze also über eine Stunde im Vorbereitungsraum und kann noch dankbar sein, dass ich den Glückskuli habe und deshalb nur Zeit beim Nachschlagen verliere, statt den Bericht â wie mit jedem anderen Stift unausweichlich â noch mehrmals neu anfangen zu müssen! Auch die Konzentration ist im Vorbereitungsraum schwer zu halten. Denn natürlich gehen hier ALLE ein und aus. Und selbst die, die mich nicht ansprechen (»Oh, du musst Berichte schreiben? Ich bin ganz still!«), bewegen sich so bemüht leise im Raum, dass ich dauernd hinsehen muss.
Die einzige Ausnahme ist Dr. Thalheim. Er ist Zeuge, wie Dr. Ross mir den Berichtsbogen übergibt â und als er nach einer Stunde zurückkommt, fragt er laut und direkt: »Sind Sie immer noch nicht fertig?«
Ich bin nur eine Sekunde gekränkt, dann tritt er hinter den Schreibtisch und sieht mir über die Schulter. Ich merke, wie mein Rücken sich verspannt. (Bleib ruhig, Lena, du HAST doch alles nachgeschlagen!)
Dr. Thalheim überfliegt den Bericht und das »Hmhm ⦠okay â¦Â« zwischendurch ist eigentlich beruhigend. SchlieÃlich legt er mir die Hand auf die Schulter und sagt: »Das genügt völlig. Machen Sie Schluss.« Bevor ich etwas antworten kann, geht er hinaus, ohne sich noch mal umzusehen. Meine Schulter strahlt ganz warm.
Stolz hefte ich den Bericht in Manuels Akte und lege sie auf Dr. Rossâ Schreibtisch. Die Stationsärztin â ich muss fast grinsen â warnt mich gleich, dass sie meinen Bericht heute wohl nicht mehr kontrollieren kann. Na klar, es ist ja schon fünf! Ich lächle und erkläre, dass Dr. Thalheim den Bericht so weit in Ordnung findet. (Sie tut doch immer so vertraut mit dem Oberarzt! Das kann ich auch! »Hach, wir sprachen gerade so nett, Dr. Thalheim und ich, und da hat er meinen Bericht einfach schnell selbst gelesen.« Marie-Luise hätte es SO gebracht. Ich hoffe nur, dass Dr. Ross es so versteht.) Dr. Ross zieht die Augenbrauen hoch. Ups, hoffentlich fühlt sie sich jetzt nicht übergangen? Soll ich lieber meinen Triumph opfern und zugeben, dass Dr. Thalheim den Bericht nur zufällig gelesen hat?
Aber die Faulheit siegt, Dr. Ross lächelt. »Dann muss ich ihn ja nicht mehr kontrollieren.« Sie gibt mir die Akte einfach zurück.
Voll neuem Tatendrang trete ich wieder auf den Flur, nach dieser zähen Schreibtischstunde muss ich dringend unter Leute. Was steht noch an? Ich muss Manuel über die Ergebnisse seiner Untersuchung aufklären. Was wollte ich heute noch? Ach so ⦠Ich hatte mir doch vorgenommen, Isa im Auge zu behalten!Nicht dass ich mir aufwendige oder zeitraubende Spionage vorgestellt hatte â ich wollte Isa weder über die Gänge nachschleichen noch raffinierte Befragungen unter dem männlichen Personal durchführen, nur die Augen offen halten. Aber ich habe seit heute Morgen nicht mehr eine Sekunde daran gedacht. Wie gesagt: Das Privatleben kommt hier total zu kurz!
Bis zum Feierabend geht das Gehetze munter weiter. Ich besuche Manuel und informiere ihn, dass alles in Ordnung ist und ich morgen bei der Visite alles ausführlich erklären werde. Manuel fragt, ob ich ihn dann bald entlassen will. Ehrlich gesagt â dieser Frage habe ich mich auch noch nicht gestellt. Aber klar, wenn jetzt nichts mehr vorkommt ⦠Wenn er verspricht, zu Hause noch ein bis zwei Wochen still zu liegen ⦠Warum sollte ich ihn zwingen, hierzubleiben? Warum sollte ich ihn hierbehalten wollen? Ich vertröste ihn auch mit dieser Frage auf morgen.
»Tu mir nur einen Gefallen, Frau Doktor«, lächelt er. »Sag es mir rechtzeitig, damit ich mich seelisch und moralisch auf unseren Abschied vorbereiten kann!«
»Ach«, frage ich zurück, »wird es dir so schwerfallen, dich von mir zu trennen?«
Er zuckt die Achseln. »Oder ich will nur die Vorfreude genieÃen?«
Klar. Und ich dachte, wir sind uns heute nähergekommen. Als ich erschöpft in Richtung
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