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Miss Emergency

Miss Emergency

Titel: Miss Emergency Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Rothe-Liermann
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nicht entlocken, sie lächelt wie eine Sphinx. Leider bleibt keine Zeit, sie auszuhorchen oder zu erpressen; die Visite ist herangerückt.
    Magie ist nicht immer weiß, positiv, feenhaft. Am Nachmittag senkt sich ein böser Zauber über uns, ein regelrechter Bann.Noch während der S-Bahnfahrt haben wir Isa mit Testfragen gelöchert – noch auf dem Krankenhausvorplatz konnte sie alle beantworten. Noch vor zehn Minuten, beim Mittagessen, war sie bester Dinge. Als Dr. Dr. Friedrich Kreuz die PJler-Reihe auf dem Flur abschreitet, bin ICH die Nervöse. Immerhin muss ich diesmal selbst einen Patienten vor dem Chefarzt vorstellen. Isa hingegen ist ruhig. Verdächtig ruhig. Sprachlos. In diesem Moment wird es mir klar. Isa ist verloren.
    Die Visite wird eine Katastrophe. Bei der ersten Chefarztvisite waren wir alle unvorbereitet und es war auch Dr. Kreuz’ erste Begegnung mit uns. Dass es da jemandem die Sprache verschlug, war vielleicht entschuldbar. Beim zweiten Mal nicht. Und diesmal kommt Dr. Dr. Kreuz mit einer festen Vorstellung. Scheinbar erinnert er sich an die schweigsame ängstliche Neue und hat sich vorgenommen, ihr heute eine zweite Chance zu geben. Und eine dritte, vierte und vierzehnte. Isa ist dauernd dran. Und gibt nicht eine einzige Antwort. Es ist die Hölle. Dr. Kreuz tut nichts, um Isa zu erlösen. Er fragt auch beim fünfzehnten Mal so ungerührt, als habe Isa nicht schon auf vierzehn Fragen entsetzt den Kopf geschüttelt.
    Meine eigene Patientenvorstellung ist eine willkommene Unterbrechung in dem schrecklichen Trauerspiel, die ich dankbar annehme und sogar hinauszuzögern versuche. Ich erkläre die Untersuchungsergebnisse und schlussfolgere, dass Manuel – falls seine Genesung weiter so gut fortschreitet – zu Beginn der nächsten Woche entlassen werden kann.
    Â»Normalerweise schmeißen wir vor dem Wochenende alles raus, was laufen kann«, brummt der Chefarzt.
    Was?! Soll ich Manuel jetzt aus dem Bett zerren? »Also laufen kann er nicht. Sollte er nicht …«, stammle ich.
    Dr. Kreuz lacht. »Kleiner Scherz.« Aha. Chefarztscherz. Nett, dass Ihnen nach so was zumute ist. Mir nicht.
    In den quälenden Physikstunden meiner Schulzeit, in denen ich dauernd dran war und nie auch nur einen Hauch verstand, habe ich eine unersetzliche Lebensweisheit gelernt: Jede Stunde,und kommt sie einem auch vor wie die ewige Eishölle, hat nur 60 Minuten. Und irgendwann und unweigerlich sind 60 Minuten, so quälend sie auch waren, VORBEI. Auch die Chefarztvisite vergeht. Nach einer Stunde stehen wir erschöpft und verschwitzt auf dem Flur. Isa ist ein winziges Häufchen Elend. Wir schleppen sie – wohin auch sonst – in die uns viel zu vertraute Damentoilette. Isa weint.
    Â»Ich kann meine Sachen packen«, sagt sie. »Ruft meine Eltern an. Ich ziehe zurück nach Hause und verkrieche mich für den Rest meines Lebens in meinem Kinderzimmer.« All unsere Trostversuche scheitern. »Ihr glaubt doch nicht, dass der mich hier noch einen Handschlag tun lässt!«, schluchzt Isa. »Wieso sollte der mir einen Patienten anvertrauen?!«
    Wie ungerecht: Isa ist diejenige von uns, die am meisten gelernt hat und noch vor zwei Stunden – ich kann es beschwören! – einfach ALLES wusste. Ich biete an, mit Dr. Ross zu sprechen, mit dem Oberarzt, sogar mit dem Chef. Sie müssen doch erfahren, dass Isa nicht dumm oder ignorant ist – nur ängstlich! Isa schüttelt resigniert den Kopf. »Das ändert doch nichts! Die können auch keine Ärztin behalten, die kein Wort rausbringt.«
    Es ist sinnlos. Isa ist untröstlich. Erst als Jenny fragt, ob sie nach Hause gehen möchte – wir werden schon eine Ausrede finden –, sieht Isa auf. Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht und trocknet ihre Tränen. »Auf keinen Fall! Vielleicht ist das mein letzter Tag, da will ich doch alle Patienten noch mal besuchen.« Ich könnte sie knutschen für ihre Tapferkeit.
    Die nächsten zwei zauberhaften Momente des Tages sind zum Glück von der guten Art. Von Isas Unglück mitgenommen, bin ich am Nachmittag ein wenig langsam und gedrückter Stimmung. Auf der Suche nach etwas Ablenkung werfe ich einen Blick in Manuels Zimmer. Und siehe da, er schläft. Wie ein Baby liegt er da, den Kopf halb auf meinem Bären. Er sieht aus wie fünfzehn. Ich weiß auch

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