Miss Emergency
Kontaktaufnahme halte, dass der Mann die Frau anruft.) Trotzdem: Wäre es zu der geplanten Verabschiedung gekommen, hätte ich ihm natürlich meine Nummer gegeben. Jenny sieht kein Problem darin, schlieÃlich kann ich seine Adresse einfach in seiner Akte nachschlagen. Ehrlich gesagt habe ich dabei ein wenig Skrupel â¦
Der Abend vergeht jedenfalls sehr nett, auch wenn Jenny sich vor dem Schlafengehen beschwert, wir würden nur noch zu Hause hocken. Klar, wir sind ja schon DREI Abende daheimgeblieben! Wenn wir morgen auch nichts unternehmen, sagt sie, ist sie glatt gezwungen, sich mit Leo zu treffen â obwohl der immer nur über seine Musik redet, was einem als Nicht-Musikerin irgendwann redundant erscheint ⦠Wir sind verwirrt; der Musiker hieà doch Ron? Jenny macht eine wegwerfende Geste. Ron war nur der Schlagzeuger. Leo ist Gitarrist und Sänger!
Ich wusste bisher nicht, dass es bandinhärente Attraktivitäts-Abstufungen gibt, die sich an den Instrumenten bemessen â könnte das ein wenig oberflächlich sein? â, aber Jenny hat den tätowierten Ron schon völlig aus ihrem Bewusstsein gestrichen. Etwas später, als wir nebeneinander im Bad stehen, wage ich die Frage, ob Jenny sich nicht unwohl fühlt, wenn rings um sie herum abgelegte »Freunde« herumlaufen. Wie ist das, wenn sie letzten Samstag als Rons Freundin zum Konzert kam â und diese Woche an Leos Seite erscheint?
Jenny lässt die quietschrosa Zahnbürste sinken und schaut mich verständnislos an. »Da ist doch nichts dabei?«
Ich finde, das klingt ein wenig naiv. Oder gefühllos.
»Ich bin mit all meinen Exjungs befreundet«, lächelt sie.
Ich kann es nicht glauben. Gab es nie Eifersucht, Streit, Hass? Liefen alle Beziehungsenden so freundlich und einträchtig ab, dass man am nächsten Tag wieder zusammen Eis essen gehen kann? So was habe ich nie erlebt.
»So groÃes Drama ist es bei mir eben nie.« Jenny spuckt Zahnpasta ins Becken und zuckt mit den Schultern. »Man verliebt sich, irgendwann entliebt man sich und wenn man Glück hat, gleichzeitig.« Prüfend bleckt sie ihre Zähne vor dem Spiegel wie ein täuschend niedliches, bissiges Tierchen. »Wenn nicht, muss einer eben tapfer sein.«
Ich habe den Verdacht, dass es selten Jenny ist, der das abverlangt wird. »Und was, wenn Ron und Leo nun nicht mehr Freunde sein wollen, nachdem du sie ausgetauscht hast?«, frage ich streng. »Was ist, wenn deinetwegen eine aufstrebende junge Band zerbricht?!«
Jenny lacht und drückt ihre blonden Locken an beiden Seiten des Kopfes platt ins Gesicht. »Dann mache ich mir Yoko-Ono-Haare!«
Am Mittwochmorgen wartet Dr. Thalheim am Tresen auf mich. (Nun ja, ich schätze, dass er zufällig vorbeikommt, als ich meinen Dienst antrete â aber die Vorstellung, dass er auf mich gewartet hat, gefällt mir natürlich besser.) Er teilt mir mit, dass Frau Klein noch auf der Intensivstation liegt. Sie wird künstlich beatmet. Noch ist nicht klar, ob sie alles unbeschadet überstehen wird. Ich nicke. Dr. Thalheim sieht mich offen an.
»Ich weiÃ, Sie haben die Patientin ins Herz geschlossen. Sie dürfen sie in Ihrer Pause gern besuchen.« Seine Stimme ist warm und weich, unsere Differenzen sind vergessen. In meinem Kopf taucht das Bild der winzigen, zerknitterten, hilflosen Frau Klein auf, die in meinen Armen fast erstickt. Mit meiner Coolness ist es vorbei.
Ich sehe an Dr. Thalheim vorbei und frage: »Sie wird es doch überleben, oder?«
Dr. Thalheim sucht meinen Blick, sieht mir in die Augen. »Wir werden sehen. Aber Sie können dafür jetzt nichts mehr tun. Auch das müssen Sie hier lernen.«
Damit dreht er sich um und geht. Ich sehe ihm nach, wie er über den Flur davoneilt, schon wieder ganz geschäftig. Wird man so nach zehn Dienstjahren? Ich auch? Will ich so werden? Ist es dann leichter?
Vorerst ist an einen Besuch bei Frau Klein nicht zu denken. Ich habe den Stationsrundgang gerade beendet, als Dr. Ross mich rufen lässt; ich soll einen neuen Patienten für die Innere aufnehmen. Auf dem Weg in den Aufnahmebereich gehe ich im Kopf noch einmal durch, was ich zu tun habe. Ist der Patient stationär eingewiesen worden oder Notfallpatient? Entsprechend ausführlich muss ich die Anamnese und die körperliche Untersuchung durchführen, je nach Zustand des Patienten. Die
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