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Miss Emergency

Miss Emergency

Titel: Miss Emergency Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Rothe-Liermann
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Gesicht.
    Â»Meine Lieblingsärztin …«
    Diese zwei Worte waren offenbar schon zu anstrengend für sie; wieder überkommt sie ein schlimmer Hustenanfall. Ich weiß nicht, ob ihr neues EKG schon ausgewertet wurde und was für Ergebnisse es zeigt, aber fest steht, Frau Kleins Husten wird immer schlimmer, wie wacker sie auch das Gegenteil behauptet.
    Â»Es geht Ihnen gar nicht gut, oder?«, frage ich leise.
    Frau Klein schüttelt abwehrend den Kopf. »Ich will nicht jammern …«
    Langsam habe ich ihre Bescheidenheit wirklich satt. »Das ist doch kein Jammern, Frau Klein! Haben Sie Schmerzen?«
    Sie hustet. Es klingt fürchterlich. »Es geht schon.« Sie ringt nach Luft. Mir platzt der Kragen. Ich schlage einen barschen Tonfall an, eine regelrechte Oberlehrerinnen-Stimme.
    Â»Sie sind die Letzte, der man Weinerlichkeit unterstellen könnte! Aber Ihre falsche Bescheidenheit bringt uns alle in Schwierigkeiten. Sie müssen mir sagen, ob Sie Schmerzen haben, damit wir Ihnen helfen können!«
    Sie sieht mich fast erschrocken an. Aha. Ärztliche Autorität. Frau Kleins Blick wird endlich offener. »Ich krieg keine Luft.« In meinem Kopf blättern die Lehrbuchseiten zur Pneumonie durcheinander. Ateminsuffizienz. Symptome: Atemnot. Schwitzt sie, ist sie unruhig, schnappt sie nach Luft? Lippen und Fingernägel können sich bläulich-violett verfärben. Was IST »bläulichviolett«?
    Frau Kleins Fingernägel sind beinahe durchscheinend, sie haben eigentlich gar keine Farbe, aber einen bläulichen Schimmer könnte man schon ausmachen. Ihre Lippen sind dunkel. Was heißt »bläulich«?! Ich muss jemanden holen! Sofort. Das hierkann weit schlimmer sein, als wir die ganze Zeit dachten. Die Buchstaben in meinem Kopflehrbuch werden größer und größer. Im schlimmsten Fall kann der Patient nicht mehr selbstständig atmen und ist nicht mehr in der Lage, ausreichend Sauerstoff aufzunehmen. Es kommt zu schwerem Sauerstoffmangel. Über eine Nasensonde muss Sauerstoff zugegeben werden. Ich muss zu Dr. Thalheim.
    Â»Keine Angst, Frau Klein. Wir helfen Ihnen gleich. Ich bin sofort wieder da.«
    Ich bin noch nicht an der Tür, als ich sie plötzlich laut keuchen höre. Dann ein Schreckenslaut, wie der Schrei eines kranken Vogels. Ihre Hände krampfen sich zusammen, ihre Augen sind weit aufgerissen wie in Todesangst. Mit einem Sprung bin ich wieder bei ihr. Sie bekommt keine Luft, hat panische Angst, es ist, als ob sie erstickt. Jetzt, hier, vor meinen Augen. Das Notsignal dröhnt über die Station, jemand schreit um Hilfe, es ist meine Stimme, aber sie klingt ganz fremd. Atemspende. Kopf überstrecken, Nase verschließen, über den Mund Luft insufflieren. Das hast du tausendmal gemacht. An Puppen. Es geht nicht. Frau Klein ist in Panik, ich kann sie nicht halten. Ruhig! Lass mich doch helfen! Helft mir doch! Meine Hände zittern. Ich habe enorme Kräfte, ich halte sie. Tränen tropfen auf das Kopfkissen. Es sind höchstens zwanzig Sekunden vergangen. Die längsten zwanzig Sekunden seit Anbeginn der Welt.
    Jemand steht neben mir, jemand zieht mich vom Bett weg. Jemand bringt einen Notfallrespirator. Eine Maske wird auf Frau Kleins Gesicht gedrückt. Die Sauerstoffzufuhr läuft. Intensivmedizinische Versorgung. Künstliche Beatmung. Frau Klein wird wegtransportiert. Alle gehen eilig, aber niemand rennt. Ich gehe hinterher. Ruhige Stimmen. Jemand sagt: »Die Patientin braucht maschinelle Atemhilfe.« Man muss ihr die Atemarbeit abnehmen. Meiner lieben, kleinen Omi. Sie bekommt einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre gelegt und wird an das Beatmungsgerät angeschlossen. Jemand sagt: »Gut gemacht, Fräulein Weissenbach! Sie können jetzt zurück auf Ihre Station.«
    Ich stehe auf dem Gang der Intensivstation. Jemand hat mit Dr. Thalheims Stimme gesagt, ich solle wieder auf die Station gehen. Mir war gar nicht bewusst, dass Dr. Thalheim da war. Erst langsam komme ich wieder zu mir. Ich war wie abgeschaltet. Außen Autopilot, innen ein hilfloses kleines Mädchen. Das Seltsame daran ist, dass die anderen offenbar die ganze Zeit den Autopiloten gesehen haben. Sie wissen nicht, dass ich im Inneren panisch und ohnmächtig war. Es muss ausgesehen haben, als sei ich konzentriert bei der Sache und handle mustergültig nach Vorschrift. War das so? Ich habe es richtig gemacht. Nur nicht

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