Miss Emergency
bewusst. Ich habe ohne Verzögerung erstversorgt und alles ist vorbildlich gelaufen. Doch was die anderen für planvoll halten, war nur eine automatische Reaktion, nichts, was ich bewusst gesteuert habe. Wird das immer so sein? Dass man im Inneren weint und betet und nur auÃen rasch und geschult die richtigen Knöpfe drückt? Kann man sich darauf verlassen, dass man die drückt? Hätte es genauso gut passieren können, dass die Fremdsteuerung ein ganz falsches Programm einschaltet? Ãberwindet man diese Schizophrenie irgendwann und ist nur noch der Autopilot? Ich bete dafür. So etwas wie eben möchte ich nie wieder erleben.
Auf dem Weg zur Station kommt langsam alles zurück. Hoffentlich hat jemand meine Runde fortgesetzt. Ich sollte der Magenkrebspatientin eine Blutprobe entnehmen, hoffentlich hat das jemand übernommen, die Probe sollte schnellstens ins Labor. Jenny. Paula Schwab ist jetzt ihre Patientin. Mein Gedankenkarussell dreht sich immer noch erschreckend langsam. Ich muss abgehärteter werden. Schneller wieder funktionieren. Irgendwann werden noch schlimmere Dinge passieren. Es wird Situationen geben, in denen sie schnell aufeinanderfolgen. Dann darf dich so ein Erlebnis nicht für eine Stunde ausschalten. Dann musst du sofort weiter zum nächsten Patienten. Und genauso funktionieren. Was willst du machen, wenn jemand stirbt, Lena?
Ich bleibe stehen. Immer wieder ist das gesagt worden. Im Studium gab es zu Beginn jedes Fachs und dann regelmäÃig etwaviermal im Semester die Ermahnung. Menschen sterben. Es wird passieren. Ich weià das. Ich war in der Pathologie, habe all die Fächer absolviert, vor denen sich meine Nicht-Mediziner-Freundinnen mit angeekeltem Schauer gruseln. Leichen. Noch nie habe ich eine gekannt. Heute wäre es fast dazu gekommen. Ich war überhaupt nicht vorbereitet.
Die Tür zu Nummer 16 steht offen. Eine Lernschwester bezieht das Bett. Manuel ist weg. Ich habe seinen Abschied verpasst.
Noch vor zwei Stunden war ich ein Mädchen mit einem Date. Ein bisschen aufgeregt, ein bisschen verliebt, süÃe Geheimniskrämerei. Jetzt ist kein Gedanke mehr daran. Ich würde das alles hergeben, wenn die kleine Omi auf der Intensivstation durchkommt. Alles andere ist unwichtig. Das Krankenhaus bestimmt plötzlich mein ganzes Leben.
M eine Freundinnen lassen sich alles dreimal erklären und sind des Lobes voll. Jenny gibt freimütig zu, dass sie sich auch eine solche Bewährungsprobe wünscht. Bei Isa schwingt ein wenig Angst mit, sie könne in eine ähnliche Lage geraten und falsch oder zu langsam reagieren. Diesbezüglich kann ich sie mit meiner Automatismus-Erfahrung beruhigen. Heute Abend bin ich es, die bekümmert und bekocht wird. Dabei habe ich doch eigentlich gar nichts getan â¦
Weil die beiden mich so rührend umsorgen, gestehe ich ihnen endlich auch mein Manuel-Verabredungs-Geheimnis. Jenny lobt mich für vorbildliche Effizienz.
»Ich muss immer zusehen, wie ich neben der Arbeit noch Zeit finde, die Suche nach dem Richtigen am Laufen zu halten«, lacht sie. »Du erledigst das effektiv in einem Aufwasch. Kein Wunder, dass du so entspannt bist!«
Ich könnte ausufernd widersprechen; ich fühle mich weder entspannt, noch habe ich planvoll kombiniert â und dass Jenny nur nach einem Richtigen sucht, ist ja wohl die Beschönigung des Tages. Doch ein klein wenig lasse ich mir die Schmeicheleien auch gefallen. Was könnte sich mehr nach Bestätigung anfühlen, als ein Lob für Date-Anbahnungen von der routinierten, erfolgsverwöhnten Jenny?! Und nicht einmal Isa bringt eine warnende Einschränkung zum Thema Ãrztin und Patient vor, obwohl ich zugebe, dass unsere Verabredung schon ein paar Tage bestand. Vielleicht, weil sie selbst jemanden trifft, zu dem sie beruflich geseheneigentlich Abstand halten sollte?! Jedenfalls haben meine Freundinnen groÃes Mitgefühl für meine verpasste Verabschiedung â es tut ihnen fast mehr leid als mir. Ich habe bisher nur an Frau Klein gedacht und keinen Moment daran, was Manuel denken könnte, warum ich nicht aufgekreuzt bin â¦
Isa hofft für mich, dass er sich trotzdem meldet, meine Adresse könnte er ja über die Klinik bekommen. Ich hatte überhaupt noch nicht daran gedacht, dass er mich nicht einfach anrufen kann. (Vielleicht, weil ich es nicht wie Isa für die einzige Möglichkeit der
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