Miss Emergency, Band 4: Miss Emergency , Operation Glücksstern (German Edition)
Diagnosen zu wiederholen. Und zu üben, wie man möglichst lange dazu spricht.
Genau zwei Stunden später startet die Prüfungsgruppe zum alles entscheidenden Rundgang. Johanna, Patrick, Jenny und ich. Außerdem Dr. Thiersch, Dr. Al-Sayed, Dr. Paulsen und ein älterer Herr. Prof. Dr. Heidemuth. Der Pharmakologe. Vor dem ich eine Heidenangst habe.
Wir gehen von einem Patientenzimmer zum nächsten. Patrick ist der Erste. Johanna lauscht während seiner Vorstellung an der Tür. Wir nicht. Wir wiederholen ein vorletztes Mal unsere Diagnosen.
Als Johanna dran ist, lauscht Patrick. Drinnen wird gelacht. Johanna kommt mit einem Strahlen zurück, das nahelegt, dass nicht ÜBER sie gelacht wurde.
Dann ist Jenny an der Reihe. Ich lausche nicht. Nur ein bisschen. In diesem Zimmer wird nicht gelacht. Und als Jenny rauskommt, beißt sie sich auf die Lippen.
»Ich hab die Schilddrüse nicht richtig erklärt«, wispert sie, als wir weitergehen.
»Das machst du nachher in der Fragerunde wieder gut«, flüstere ich zurück. Und dann beginnt meine Prüfung.
Herr Berthold hat sich umgezogen. Oder umziehen lassen.Vorhin trug er jedenfalls noch keinen silberfarbenen Schlafanzug. Vielleicht war der für mich zu schade. Oder es ist ihm jetzt erst eingefallen, dass er sich auch ein bisschen schick machen könnte. Er lächelt stolz in die Runde.
»Hallo, Herr Berthold! Was für ein schöner Schlafanzug!«, sage ich. Und dann nur noch Wesentliches. Hoffe ich.
Ich übergebe den Patienten, erkläre alles noch einmal, was ich vorhin getan und mittlerweile auch in meinem Arztbrief schriftlich dargelegt habe. Ich mache vielleicht ein bisschen zu viele Worte. Um Zeit zu gewinnen, ja ja. Aber niemand unterbricht mich. Nach der Diagnose spreche ich über die Behandlungsmöglichkeiten. Über die Medikamente, krampflösende und schmerzstillende. Über die Unterschiede zwischen akuter Gallenkolik und einem chronischen Gallensteinleiden. Darüber, wie man eine Infektion der Gallenblase mit Antibiotika behandelt. Und darüber, wie man die Gallenblase chirurgisch entfernt. Sowie die Gallengangsteine. Auf endoskopischem Weg. Obwohl man manche auch medikamentös auflösen oder mittels Stoßwellen zertrümmern kann. Aber ich plädiere für die OP.
Dann fällt mir wirklich nichts mehr ein. Und ich fürchte, dass ich das Wort Galle nicht noch ein einziges Mal über die Lippen bringe. Aber ich habe fast zehn Minuten gesprochen.
Es gibt eine Nachfrage von Dr. Paulsen: Warum ich eine OP statt einer Behandlung empfehle? – Ich kann sie beantworten: Weil das Risiko, innerhalb von fünf Jahren nach der Therapie erneut Gallensteine zu entwickeln, zwischen 30 und 50 Prozent liegt.
»Also, ich möchte dann lieber operiert werden«, schaltet sich Herr Berthold ein.
»Keine Sorge, das werden Sie sicher«, sagt Dr. Al-Sayed knapp. Womit ich weiß, dass ich in diesem Punkt richtiglag.
»Würden Sie für uns noch etwas untersuchen?«, fragt Dr. Thiersch, als hätte ich eine Wahl.
»Was darf es denn sein?«, frage ich zurück.
Sie entscheidet sich für das Sprunggelenk. Woraufhin ich eineSchmerzanamnese durchführe, um einen Schmerz zu lokalisieren, den Herr Berthold nicht hat, Instabilitäten und Bewegungseinschränkungen untersuche, die er auch nicht hat und Vorerkrankungen und Beschwerden erfrage, zu denen er überhaupt nichts sagen kann.
»Macht das was?«, fragt er mich plötzlich im Flüsterton. Ich erkläre ihm noch einmal, dass es hier gar nicht mehr um ihn geht.
»Nur, weil Sie ja jetzt nichts finden …«, sagt er mit bedenkenvoller Miene.
»Kein Problem«, entgegne ich. »Ich zähle jetzt alles auf, was ich finden KÖNNTE – und Sie hören weg. Denn Sie HABEN ja nichts am Sprunggelenk.«
Hat Prof. Dr. Heidemuth jetzt gelächelt? Ich hoffe, aus Sympathie! (Und dass er das morgen noch weiß, wenn er mich zur Pharmakologie befragt.)
Ich zähle alles auf, was ich an Herrn Bertholds Sprunggelenk sehen könnte – von Hämatom bis Muskelatrophie – oder ertasten könnte – von Tarsaltunnelsyndrom bis Achillessehnenruptur. Und wie ich das jeweils rausfinden würde. Nur reden, Lena, reden.
Ich rede, bis jemand »Danke« sagt. Dr. Thiersch. »Bis gleich«, nickt sie.
Und das war der erste Streich. Ich wüsste gern, was für einen Eindruck ich hinterlassen habe. Ich habe bestimmt zu viel geredet. Aber keine Zeit, darüber nachzudenken.
Die Gruppe wandert in den Prüfungsraum und dort setzt unmittelbar das Fragengewitter ein. Drei Stunden
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