Miss Lonelyhearts
existierenden Vorbildern abgekupfert. Aber den Roman hat erst verstanden, wer erkennt, dass die Geschichte auf zweierlei Weise gelesen werden will. Der Leser darf sich nicht auf das wenige verlassen, was der Autor über die Motive, Seelenzustände, Träume Lonelyhearts’ verrät. Er muss sich über ein wachsendes Missverhältnis wundern: Handlungen und Gedanken passen immer weniger zueinander. In der einen Lesart hat er die Geschichte einer prekären seelischen Vervollkommnung vor sich, die Erweckungsgeschichte eines jungen Mannes in Nöten, der über manches Hindernis hinweg und dem Spott seiner Umwelt zum Trotz zum tiefen und unerschütterlichen christlichen Glauben findet. Oder wie es der West-Exeget James F. Light im Ernst formulierte: die Geschichte eines «christushaften Mannes, der begriffen hat, dass Liebe und Glauben die einzigen Antworten auf das menschliche Leiden in einem unverständlichen Universum sind». Nur sonderbar: West, der sich von seinem Judentum distanziert hatte, war erst recht niemals Christ – sollte er mit Miss Lonelyhearts eine Art religiösen Traktat verfasst haben? Je weiter man in der scheinbaren Erweckungsgeschichte fortschreitet, desto mehr Unstimmigkeiten stellen sich ein. Wenn man Lonelyhearts’ Innenansicht misstraut, sie an dem misst, was man über seine Situation und seine Handlungen erfährt, über seine objektive Außenwelt, dann verkehrt sich die erbauliche Erweckungsgeschichte in die Geschichte eines zunehmenden Wirklichkeitsverlustes.
Der junge Mann – Lonelyhearts ist sechsundzwanzig – hat ein wirkliches und massives Problem: Er ist seinem Job nicht mehr gewachsen, Burnout schon am Anfang der Karriere. «Diese Art von Zeitungsartikeln sind ein besonders schmutziges und gemeines Geschäft», schrieb der Dichter William Carlos Williams, «denn es sollte offensichtlich sein, dass sich Verzweifelnde, die eine solche Pressedienstleistung in Anspruch nehmen und ihr gar vertrauen, nicht ernsthaft zu beraten sind. Tatsache ist, dass die Zeitung auf diese Weise das Unglück verkaufsfördernd ausbeutet, indem sie den zufälligen Leser einen erbärmlichen Augenblick lang über jene lachen lässt, die ihr Vertrauen schenken.» Lonelyhearts hat die Kolumne monatelang unter Skrupeln geschrieben und weiß nun endgültig nicht mehr, was er auf diese Leserbriefe antworten soll. Sie sind wie weltliche Gebete. Er kommt sich vor wie Gott, der zur Rede gestellt wird für die Beschaffenheit seiner Welt und nichts Sinnvolles zu erwidern weiß. Er hat nicht das dicke Fell und den Zynismus, die in seinem Beruf wohl nötig wären. Er kann nicht ignorieren, dass echte Not aus ihnen spricht, will die Schreiber nicht länger mit routinierten Floskeln abspeisen, will helfen. Was sich Lonelyhearts nicht eingestehen will: Wenn die meisten Briefe wie die sechs im Roman zitierten sind, ist ihren Verfassern leider nicht zu helfen, weder mit Worten noch mit Taten. Er scheint hingegen überzeugt, dass ihnen doch geholfen werden könnte: durch christliche Frömmigkeit.
Zum Glauben muss er sich nicht durchringen. Er ist von vornherein Christ, der Sohn eines Baptistenpastors, der selber wie einer aussieht und mit Religion vollgesogen scheint. Glaubenszweifel, die niedergekämpft werden müssten, hat er nicht. Die einzige Dekoration seines Zimmers ist ein Kruzifix an der Wand gegenüber seinem Bett. Wenn er einmal bemerkt, es fehle ihm an Glauben, so meint er nur, dass er sich nicht rückhaltlos in seinen Glauben fallen lassen kann, dass er zu wenig demütig ist. Was ihm nämlich zusetzt, nun da sich notleidende Menschen an ihn wenden wie an Gott und er keine Antwort weiß, ist das uralte christliche Problem der Theodizee: Wie kann ein allmächtiger und gütiger Gott so viel Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Uneinsichtigkeit, Krankheit, Armut und Leid, kurz das Böse in seiner Welt zulassen? Er müsste seinen Lesern, an Gottes Stelle, erklären können, dass ihrem Leiden zwar konkret nicht abzuhelfen ist, dass aber trotzdem alles seine Richtigkeit hat und von Gott zu ihrem Besten so gewollt ist («Gottes unerforschliche Wege»). Gott liebt euch trotzdem, liebt ihr euch gegenseitig also gefälligst auch, und fügt euch im Übrigen in euer schlimmes Schicksal. Verständlicherweise sträubt er sich zunächst, eine solche Botschaft zu verkünden. Es ist ihm wohl immerhin noch bewusst, dass sie weder bei den Briefeschreibern noch bei den voyeuristischen Lesern gut ankäme. Sein Bekehrungs- oder vielmehr
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