Miss Lonelyhearts
Ex-Football-Spieler passte, einem Hünen von einem Mann: Er musste die Kolumne «Susan Chester Heart-to-Heart Letters» schreiben, eine populäre Ratgeberspalte, über die in der Redaktion gewitzelt wurde.
Von den herzerweichenden Briefen an «Susan Chester» (von der nicht bekannt ist, ob sie je in realiter existiert hat) hatte er an diesem Tag sechs Stück mitgebracht, die die Redaktion als zu trübsinnig für eine Beantwortung aussortiert hatte. Vielleicht, dass einer seiner Freunde humoristische Funken daraus schlagen wollte? Sid Perelman sah sie durch und lehnte auf der Stelle ab: nichts für seine Art von Humor. Nathanael West steckte sie immerhin ein, nahm sie mit nach Hause und begann über sie nachzudenken. Sie bildeten, nur minimal abgewandelt, den Grundstock des Romans, an dem er von da an vier Jahre lang arbeitete: Miss Lonelyhearts . (Zwei der Briefschreiberinnen – eine war « BREITE SCHULTERN » – versuchten ihn später zu verklagen, erfolglos.)
Dass die Inkubationszeit eines so kurzen Romans vier Jahre währte, lag daran, dass es West schwerfiel, sich dem Thema zu nähern und eine adäquate Form zu finden. Er wusste zwar, was er ausdrücken wollte, hatte aber noch keine Erzähltechnik dafür parat. So schrieb er zunächst ein anderes Buch zu Ende, das ihm weniger Kopfschmerzen bereitete, weil es in den weiten Gefilden der Fantasie spielte und sich an keiner Realität rieb: The Dream Life of Balso Snell , ein kurzer, strukturloser, burlesker, skatologischer, misogyner Roman, der «surrealistisch» oder «dadaistisch» genannt wurde. Er wurde 1931 bei einem kleinen, vor dem Bankrott stehenden Verlag veröffentlicht, die Auflage betrug 500 Exemplare, von denen er selber 150 aufkaufen musste; ein Honorar erhielt er nicht. Seine Mutter, die seine literarischen Ambitionen immer missbilligt hatte, hielt das Buch für «dreckig, dreckig, dreckig».
Nach diesem Zwischenspiel machte sich West wieder an Miss Lonelyhearts , jetzt immerhin als veröffentlichter Schriftsteller. Das größte Kopfzerbrechen bereitete ihm die Perspektive des Romans. Noch Mitte 1932 , als die Avantgardezeitschriften Contact und Contempo fünf mehr oder weniger fertige Kapitel daraus vorabdruckten ( 3 , 2 , 5 , 8 , 7 , in dieser Reihenfolge), war es eine konventionelle, in der dritten Person geschriebene Erzählung über einen Mann, der einen ganz normalen Namen trug. Der Anfang lautete: «Thomas Matlock, der Miss Lonelyhearts des New Yorker ‹Evening Hawk› (‹Haben Sie Sorgen? Brauchen Sie Rat? Schreiben Sie an Miss Lonelyhearts, und gewiss hilft sie Ihnen›) beschloss, vom ‹Hawk›-Gebäude quer durch den Park zu ‹Delehanty’s› Flüsterkneipe zu gehen.» Ein Jahr später, im fertigen Roman, lautete er dann: «Miss Lonelyhearts, die Briefkastentante des New Yorker ‹Post-Dispatch› (‹Haben Sie Sorgen? Brauchen Sie Rat? Schreiben Sie an Miss Lonelyhearts, und gewiss hilft sie Ihnen›) saß an seinem Tisch und starrte auf ein Stück weißer Pappe.» Man sieht sofort, welchen Wert diese Änderung hatte: Der Satz führt den Leser nicht erst einmal hinhaltend in eine Bar, sondern mitten hinein in den zentralen Problembezirk dieser Figur, und dass dem Leser ihr Name vorenthalten wird, deutet von vornherein eine Ich-Schwäche an, die ihn ungeeignet macht, anderen irgendwelche weisen Ratschläge zu erteilen. Wer die Briefe an die Zeitung so ernst nimmt, wie er es tut, weil er bei all ihrer Unbeholfenheit die echten unlösbaren Probleme, das echte Leiden dahinter mitempfindet, wäre selber einer, der Rat und Hilfe brauchte. Miss Lonelyhearts hat das Helfersyndrom und ist dem Burnout nahe. Der Roman setzt im Augenblick seines Versagens ein, als er die Kolumne nach einigen Monaten plötzlich nicht mehr schreiben kann.
Ehe West auf die Anonymität als Lösung kam, experimentierte er mit der Ich-Erzählung und dem inneren Monolog. Beides ging schon darum nicht, weil am Ende des Romans dann nicht Lonelyhearts’ Tod hätte stehen können. Die Innenperspektive hätte es zudem unmöglich gemacht, ihn je von außen zu zeigen; stattdessen hätte er gewollt oder ungewollt zu viel von seinen eigenen Gedanken und Gefühlen über sein Dilemma verraten müssen, auch über seine Gedankenverweigerung, als dass er das Rätsel hätte bleiben können, das er unbedingt sein musste, damit er für den Leser zur Herausforderung wird. Nach der Entscheidung für die Anonymität seines Miss Lonelyhearts redigierte West noch ein halbes Jahr lang,
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