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Miss Lonelyhearts

Miss Lonelyhearts

Titel: Miss Lonelyhearts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathanael West
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er den Brief auf dem Boden entdeckte. Er hob ihn auf, suchte nach Miss Lonelyhearts und wandte sich dann wieder an die Versammlung.
    «Der Meister ist entschwunden», verkündete er, «aber verzagen Sie nicht. Ich bin immer noch bei Ihnen. Ich bin sein Jünger und führe Sie auf den Weg des Heils. Lassen Sie mich zunächst diesen an den Meister persönlich gerichteten Brief verlesen.»
    Er entnahm den Brief seinem Umschlag, als hätte er ihn nicht vorher schon gelesen, und hob an: «‹Was für ein dreckiges Stinktier sind Sie? Als ich mit dem Gin nach Hause kam lag meine Frau auf dem Boden und heulte und die Wohnung war voller Nachbarn. Sie sagte Sie haben versucht sie zu vergewaltigen Sie dreckiges Stinktier und die anderen wollten die Polizei holen aber ich habe gesagt das erledige ich selbst … › – Oje, oje, solche gemeinen Ausdrücke bringe ich gar nicht über die Lippen. Ich überspringe die Schimpfworte und lese weiter. ‹Darauf also läuft all Ihr hochgestochenes Gefasel hinaus, Sie Mistkerl, Ihnen sollte man eine Kugel durch den Kopf jagen.› Unterschrift ‹Doyle›.
    So, so, der Meister ist also ein zweiter Rasputin. Wenn einen das nicht im Glauben erschüttert! Aber ich mag es nicht glauben. Ich glaube es nicht. Der Meister kann kein Unrecht tun. Mein Glaube wankt nicht. Dies ist nur ein weiterer Anschlag des Teufels auf ihn. Er hat um unsertwillen sein Leben lang mit dem Erzfeind gerungen, und er wird den Sieg davontragen. Ich meine Miss Lonelyhearts, nicht den Teufel.
    Shrikes Evangelium. Ich will euch von seinem Leben erzählen. Es tut sich mir auf wie eine Schriftrolle. Am Anfang, in der Frühe der Kindheit, die von reiner Unschuld strahlt wie ein vom Regen gewaschener Stern, macht er sich auf den mühsamen Weg zur Hochschule der Schicksalsschläge. Als Jüngling dann stürzt er aus dem Bett seiner ersten Hure hinaus in die Nacht.
    Und schließlich der Mann, Miss Lonelyhearts – wie er tapfer um ein hohes Ideal kämpft, der Weg ausgerichtet auf ein stolzes Ziel. Aber ach, kalt und höhnisch legt ihm die Welt Hindernis auf Hindernis in den Weg; wenn er sich dem Ziele nahe dünkt, gebietet ihm eine Donnerstimme Einhalt. ‹Jedes Hindernis soll dir Leiter sein›, denkt er. ‹Steig höher, steig immer höher hinan!›, denkt er. Und so klettert er mühsam Sprosse um Sprosse nach oben, so spornt er sich selber an, atemlos von heiligem Feuer. Und so … »

MISS LONELYHEARTS UND DAS PARTYKLEID
    Als Miss Lonelyhearts aus Shrikes Wohnung kam, traf er draußen auf Betty, die im Flur auf den Fahrstuhl wartete. Sie trug ein hellblaues Kleid, das so ziemlich aussah wie ein Partykleid. Ihm wurde klar, dass sie sich für bestimmte Gelegenheiten etwas Besonderes anzog.
    Selbst den Felsen berührte diese Einsicht. Nein; der Fels war es nicht, der berührt war. Der Fels war noch intakt.
    Es war sein Geist, der berührt war, das Werkzeug, durch das er den Felsen erkannte.
    Er näherte sich Betty mit einem Lächeln, denn sein Geist war frei und klar. Was ihn getrübt hatte, hatte sich auf dem Felsen niedergeschlagen.
    Doch sie erwiderte sein Lächeln nicht. «Worüber grinst du?», fragte sie patzig.
    «Oh, tut mir leid», sagte er. «Ich hatte nichts weiter im Sinn.»
    Zusammen stiegen sie in den Fahrstuhl.
    Als sie auf die Straße hinaustraten, nahm er ihren Arm, obwohl sie diesen mit einem Ruck wegzuziehen versuchte.
    «Bitte, komm doch mit auf ein Soda», bat er. Das Partykleid hatte seinem nunmehr vereinfachten Geist das Stichwort gegeben, und das folgende Junge-und-Mädchen-Geplänkel machte ihm Spaß.
    «Nein, ich geh nach Hause.»
    «Komm, mach schon», sagte er und zog sie zu einer Soda Fountain . Beim Gehen übertrieb sie unbewusst ihr Kleines-Mädchen-im-Partykleid-Aussehen.
    Beide bestellten sie ein Erdbeer-Soda. Sie saugten die rosa Tropfen durch die Strohhalme, sie machte wegen seines Lächelns einen Schmollmund, und keinem von ihnen war bewusst, dass sie wie niedliche Kinder wirkten.
    «Warum bist du mir böse, Betty? Ich hab doch nichts getan. Es war Shrikes Einfall, und keiner außer ihm hat was gesagt.»
    «Weil du ein Narr bist.»
    «Ich habe den Miss-Lonelyhearts-Job hingeschmissen. Seit fast einer Woche war ich nicht mehr in der Redaktion.»
    «Was wirst du jetzt machen?»
    «Ich suche mir einen Job in einer Werbeagentur.»
    Er log nicht vorsätzlich. Er versuchte nur zu sagen, was sie hören wollte. Das Partykleid war so fröhlich und bezaubernd, hellblau mit einem schaumigen, rosa

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