Miss Mary und das geheime Dokument
Tracey brauchte wohl andere Medizin, aber eine Stärkung seines körperlichen Wohlbefindens konnte doch sicher nicht schädlich für ihn sein. Sie entkorkte die Flasche und hielt ihre Nase daran. Es roch etwas würzig, wie nach Minze. Da sie keinen Löffel zur Hand hatte, goss sie vorsichtig ein wenig in seinen Mund.
Gleich darauf öffnete Tracey die Augen und fing an zu husten. Dann starrte er Mary an. »Finch?«, stieß er hervor. Sie antwortete, und er sah sich unsicher um. »Sind … sind wir tot?«
»Nein, Sir. Wir sind auf der Straße nach Ipswich.«
»Wie haben Sie … Gott sei Dank, dass Sie mich gefunden haben.« Tracey bewegte seine Hand kaum merklich, während Mary diese fest umklammert hielt. »Ich hatte so merkwürdige … Fantasien«, gestand er ihr. »Seit … Aber das war nicht meine Schuld, wissen Sie.«
»Psst«, drängte Mary ihn. »Niemand kann Ihnen die Schuld an dem Unfall geben. Und jetzt sind Sie schon so gut wie außer Gefahr.«
»Niemand ist jetzt außer Gefahr. Aber ich wollte niemandem wehtun. Können... können Sie mir das glauben?«
»Aber natürlich. Bitte machen Sie sich keine Sorgen.«
»So müde … Ich ruhe mich jetzt etwas aus«, murmelte Tracey. »Gut, … dass Sie nichts dagegen haben.«
Mary ließ seine Hand los und lehnte sich zurück, unsicher, was sie jetzt tun sollte. Sie wusste nicht, wovon er geredet hatte, nahm aber an, es wäre richtig, ihm zuzustimmen, Hauptsache es beruhigte ihn. Sollte sie ihn wieder munter machen? War es besser, wenn er sich ausruhte oder wenn er wach blieb? Eines der Mädchen bei Mrs. Bunbury hatte immer wieder Ohnmachtsanfälle erlitten, aber Mary erinnerte sich nicht daran, wie man sie behandelt hatte - außerdem war vielleicht alles nur vorgetäuscht gewesen, damals. Ned bewegte sich zwischen den Bäumen. Vielleicht sollte sie auch die Wunde mit dem Splitter versorgen.
Dann merkte sie, dass Tracey aufgewacht war. Er bewegte sich etwas und verzog das Gesicht. Sie nahm dies als Zeichen, dass er ihr etwas sagen wollte, es aber nicht ohne Hilfe tun konnte. Deshalb flößte sie ihm noch etwas Kräuterelixier ein.
»Es dauert jetzt nicht mehr lange, Mr. Tracey«, versicherte sie ihm und versuchte dabei zuversichtlich zu klingen. »Der Arzt ist schon auf dem Weg.«
»Auf dem Weg«, stimmte er zu. Er sprach jetzt schnell. »Vielleicht, aber er ist verdammt spät dran. Wie lange sollen wir noch auf ihn warten? Unser Risiko ist verteufelt groß.«
Mary drängte ihn zur Ruhe, was ihn aber nur noch mehr aufbrachte. Er schlug ungeduldig mit dem Arm um sich und machte dann Anstalten, sich aufzurichten. Sie hielt ihn davon ab, indem sie ihm mit den Händen die Schultern herunterdrückte. Daraufhin starrte er sie einen Augenblick lang an.
»Es ist wohl besser, wenn ich es Ihnen sage«, faselte er. »Vielleicht haben wir nicht mehr viel Zeit.«
Nicht mehr viel Zeit? Oje, dachte Mary, während sie sich über ihn beugte. Er wird doch wohl nicht in diesem Graben sterben? »Bitte nicht.« Dann zögerte sie. Wenn er etwas auf dem Herzen haben sollte, das er ihr unbedingt noch sagen wollte, wäre es gemein von ihr, ihn davon abzuhalten. Aber er hatte seine Augen wieder geschlossen, und sie war sich nicht sicher, ob er noch bei Bewusstsein war. »Sir, können Sie mich hören? Können Sie sprechen?«, rief sie und rieb ihm wieder die Hand. Sobald sie merkte, dass er bei Bewusstsein war, fragte sie ihn mit lauter Stimme: »Mr. Tracey, möchten Sie, dass ich etwas für Sie tue?«
»Es ist alles hier drinnen«, flüsterte er jetzt. »Ich habe den Schlüssel. Nur ich … Gott sei Dank sind Sie hier … Aber wir müssen uns in Acht nehmen.«
»In Acht nehmen? Wovor?« Sie runzelte die Stirn. »Ihr Schlüssel, soll ich ihn für Sie aufbewahren?«
Er schüttelte wild den Kopf. »Nein! Nein, ich muss mich darum kümmern. Sie können sich nicht vorstellen, was die … das Risiko … Sie wissen ja nicht …«
Das weiß ich ganz bestimmt nicht , dachte Mary.Was sie sagte, war jedoch: »Bitte sprechen Sie nicht, wenn Sie das aufregt. Ich wollte doch nur sagen, dass der Arzt bald hier sein wird.«
Diese Mitteilung mochte ihn besänftigt haben, denn er beruhigte sich. Auch Mary entspannte sich ein wenig. Dann fragte er sie in einem ganz anderen Ton, was geschehen sei. Sie wiederholte ihre ursprüngliche Erklärung und hielt es für am besten, ihm seinen Willen zu lassen. »Diese Landstraße ist sehr gefährlich.«
»Gefährlich«, stimmte er ihr zu. »Sie werden
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