Miss Mary und das geheime Dokument
versuchen, Sie aufzuhalten, wenn sie das herausfinden, aber wir müssen sie daran hindern.«
Abermals versuchte sie herauszufinden, was er meinte und was er wollte, aber ihre Fragen schienen nicht bis zu ihm durchzudringen, und er hing weiter seinen wirren Gedanken nach. »Ich werde tun, was ich kann, um zu helfen. Angst habe ich keine. Aber Sie müssen … bereit sein zu gehen.« Dann verlor er das Bewusstsein.
Seine Blässe ängstigte sie, und so verabreichte sie ein weiteres Mal das Kräuterelixier. Die Dosis weckte seine Lebensgeister, aber er hustete Blut. Mary wischte es weg. Mit zitternder, eindringlicher Stimme wollte er dann von ihr wissen: »Ist alles fertig? Ich kann ihn nicht treffen, wenn Sie sich nicht sicher sind.«
»Ja, natürlich. Ich bin mir sicher. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, erwiderte sie verzweifelt. Wo bleibt nur der Arzt? Die anderen müssten derweil doch in Ipswich angelangt sein. Mr.Treadgills Bemerkung kam ihr nun wieder in den Sinn. Es war in der Tat dämmrig. Sah Mr. Traceys Gesicht deshalb so gespenstisch aus? »Entschuldigen Sie bitte, Mr. Tracey«, fuhr sie fort, »ich muss mir Ihre Uhr für einen Moment borgen.«
An seiner Weste war eine Goldkette zu sehen. Vorsichtig zog sie daran. Als die Kutsche angehalten hatte, war es kurz vor vier gewesen. Ned hatte gesagt, bis nach Ipswich seien es noch um die drei Meilen. Das bedeutete … Als die Uhr aus Traceys Westentasche zum Vorschein kam, schreckte sie hoch und machte große Augen. Die Uhr war elegant und klein für eine Repetitionsuhr, mit fein gearbeiteten Zeigern aus gebläutem Stahl, wobei der Minutenring eine geschwungene Form hatte. Ungewöhnlich auch das vergoldete Gehäuse mit Schildpatteinlage und das Zifferblatt - es war nicht aus einfachem weißen, sondern aus eleganterem cremefarbenem Email. War das möglich? Sie knöpfte ihren Mantel auf und tastete nach der Tasche in ihrem Kleid. Mit den Fingern erspürte sie ein Schnupftuch, ein Sixpence-Stück und zog schließlich einen weichen, runden Gegenstand hervor. Als sie ihn in der Hand herumdrehte, vergaß sie völlig den Blick auf das Zifferblatt und die Geschwindigkeit der Kutsche, sondern starrte zunächst Mr.Traceys Uhr an und dann ihre eigene. Beide sahen exakt gleich aus.
3
»Was haben wir denn da, Herzchen? Hat wohl’nen kleinen Unfall gegeben, wie?«
Die tiefe, einschmeichelnde Stimme ließ Mary hochfahren. Ein schmalgesichtiger, verwahrlost aussehender Hänfling in langem schwarzen Mantel und mit schäbigem Hut kam auf sie zu gekrochen. Unter der Nase trug er eine Narbe, die am Mund entlang fast bis zur Backe reichte, wie Schnurrhaar bei einer Katze. Aus der kurzen Entfernung sah sie sogar seine schwarzen, grau melierten Bartstoppeln und die kleinen, blutunterlaufenen Augen.
»Oh! Ja-a«, stotterte Mary während sie ihre Fassung wiederzufinden versuchte. Instinktiv war sie vor ihm zurückgewichen, aber jetzt rief sie sich wieder ins Gedächtnis, dass ein zerlumpter Mantel noch niemanden zu einem Verbrecher machte, waren doch ihre eigenen Hände nicht die saubersten. »Er ist leider ziemlich schwer verletzt. Waren Sie … Sind Sie mit dem Wagen unterwegs?«, fragte sie hoffnungsfroh, wiewohl er nicht so aussah, als ob er sich solch einen Luxus leisten konnte.
»Hm«, erwiderte der Mann und blickte Tracey finster an. Dann drehte er sich zu Mary um und taxierte sie von oben bis unten. »Und Sie kümmern sich um ihn, Miss?«
»Wir … wir haben nach einem Arzt geschickt.«
»Ist das sein Blut an Ihrem Taschentuch? Sieht nicht gut aus, wenn er so viel Blut verliert. Glaube nicht, dass er es noch so lange macht, bis der Arzt da ist. Da kenn ich mich ein wenig mit aus, mit so was, vielleicht sollte ich …«
»Nein, bitte«, protestierte Mary. »Ich glaube nicht …«
»He!«
Er zog seine Hand weg und erhob sich in Windeseile, als Ned sich den Weg durch das Unterholz bahnte. »Was machen Sie da?«, fragte Ned ihn.
»Immer mit der Ruhe, Mann. Ich hab’s nicht böse gemeint«, versicherte er ihm. »Ich tue nur meine christliche Pflicht. Will der jungen Lady und ihrem Begleiter doch nur helfen.«
»Christliche Pflicht nennt sich das, ja? Na, dann verrichte die doch mal woanders«, blaffte Ned ihn an. »Wir brauchen keine Hilfe, nicht von jemand wie dir.« Er öffnete den Mantel, und im Gürtel kam eine ziemlich große Pistole zum Vorschein.
»Schon gut, schon gut«, murrte der Mann, hob seine Hände hoch und machte langsam einen Schritt
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