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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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einem spukenden Schloss - oder doch eher einem Kloster - zu leben.
    Langsam streckte Mary sich aus und legte sich bequemer hin. Schon bald überkam sie eine große Erschöpfung. Doch selbst im Schlaf dachte sie weiter nach und träumte davon, wie sie auf White Ladies ankäme. Es war ein wunderschönes, schon fast prunkvolles Gebäude mit Türmen und Festungsmauern, von denen aus man auf die rauen Klippen und den Ozean, der unten anbrandete, hinabschauen konnte. Drinnen backte eine Gruppe von Nonnen jede Menge duftenden Plum duff , während Captain Holland und Dr. Nichols draußen auf dem Rasen in vergoldeten Sesseln saßen, Dr. Fairweather’s Elixir tranken und ein Sonnenbad nahmen.
    Da sie tief und fest schlief, bemerkte sie nichts um sich herum: nicht die auf- und zugehenden Türen, nicht die gedämpften Gespräche, oder das Hin und Her auf den Fluren oder irgendeinen Lärm, der in einem so gut frequentierten Landgasthof wie dem Great White Horse unumgänglich war, egal zu welcher Stunde. Sie bekam weder mit, wie jemand zu ihrer Tür schlich und davor stehen blieb, noch, wie die Klinke heruntergedrückt wurde und dabei gegen den Riegel stieß, welcher verhinderte, dass die Tür sich öffnen ließ. Wer auch immer dies gewesen sein mochte - die Person trug kein Licht bei sich und blieb daher unerkannt -, ging wieder fort, ohne dass irgendjemand schlauer geworden wäre.

4
    Am folgenden Morgen wurde Mary von einer Hausmagd geweckt, einem Mädchen mit glattem blondem Haar, das ihr nebst heißem Wasser zwei Nachrichten brachte: Mr. Tracey war kurz vor Sonnenaufgang dahingeschieden, und Captain Holland entbot ihr Grüße und bat um ein Gespräch, wann immer es Mary recht sei. Beide Mitteilungen waren hochinteressant, und das Mädchen blickte Mary hoffnungsvoll an. Aufgrund eines reichlich ausgeschmückten Berichts über das Abenteuer auf der Stowmarket Road hielt sie Mary für eine äußerst wichtige Person, und jetzt bot sich ihr die Gelegenheit unten für das Gesinde etwas ähnlich Dramatisches zu fabrizieren.
    Diesbezüglich erwies sich Mary aber als Enttäuschung. Auf Mr. Traceys Tod reagierte sie nüchtern - von einer Ohnmacht keine Spur -, und bei der Nachricht des Gentlemans vom Militär errötete sie keineswegs. Der Schein kann allerdings trügen, denn die Worte der Hausmagd wirbelten Marys Gedanken völlig durcheinander. Beim Ankleiden fragte sie sich, ob weitere Schwierigkeiten vor ihr lagen, Probleme, die sich als unangenehm und gefahrvoll entpuppen könnten.
    Schließlich hatte sich Mr. Tracey unter mysteriösen Umständen auf so verhängnisvolle Weise verletzt, und sie war eine Augenzeugin, oder zumindest zugegen gewesen. Auf alle Fälle war sie in die Sache involviert, und man zöge sie nun vielleicht in das folgende Gerichtsverfahren hinein. Diese Aussicht war halb so schlimm, wäre da nicht noch die Uhr gewesen. Dass sie diese bei sich trug, erschien ihr nun trotz der Inschrift E.S.F. weit weniger vernünftig als noch am Vorabend. War es unrecht, etwas von einem Dieb zu stehlen? Sie stellte sich vor, was der Coroner wohl dazu sagen würde, und hörte sogar, wie Captain Holland in seiner kurz angebundenen, gefühllosen Art bezeugte, er habe die Uhr gesehen, und Miss Finch habe zugegeben, sie dem Verblichenen abgenommen zu haben. Captain Holland würde gegen sie aussagen müssen. Das war zweifelsohne seine Pflicht, und zudem hatte er sich äußerst skeptisch gezeigt, was die Uhr betraf und auch alles andere, das sie gesagt hatte. Der Coroner würde sicher der gleichen Meinung sein wie Captain Holland. Wer immerfort mit Leichen zu tun hatte, wurde bestimmt sehr streng und verlor jegliches Mitgefühl. Und dann würde man sie verhaften... Von der Wache aufgegriffen, weil sie nicht wachsam gewesen war und die Uhr hergezeigt hatte. Ja , überlegte sie sich, das war ein sehr amüsanter Satz. Du wirst darüber sicher noch häufig lachen, wenn du erst einmal hinter Gittern sitzt.
    Vorsichtig stieg sie die Treppe hinab und ging in das Frühstückszimmer. Captain Holland erblickte sie sofort und bedeutete ihr, sich zu ihm zu gesellen. Da außer ihm niemand im Raum war, konnte sie seine Aufforderung nicht einfach ignorieren, obgleich sie dies gerne getan hätte. Deshalb ging sie so selbstbewusst wie möglich auf ihn zu. Er sah noch imposanter aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber der kurze Blick in sein Gesicht deutete nicht auf schlechte Neuigkeiten hin. Er sah sogar gut gelaunt aus. Sie bemerkte, dass er blaue

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