Miss Mary und das geheime Dokument
trug.«
»Keinen Beweis«, wiederholte Holland und runzelte die Stirn. »Was wissen Sie über Beweise?«
»Mein Vater hat mir das einmal erklärt und auch, was Beweislast heißt. Ohne ausreichende Beweise der Seite, die die Beweislast trägt - das sind bei einem Kriminalfall die Vertreter der Krone -, kann es keine Verurteilung geben.«
Sie schaute ihn aufmerksam an. Ihr war alles sonnenklar, aber jeder weitere Kommentar schien nur seine Wut zu schüren.
»Ich dachte, Ihr Vater war Lehrer «, beklagte er sich nun.
»Das war er auch. Aber er wollte eigentlich die juristische Laufbahn einschlagen und erklärte mir natürlich alles, wenn ich ihn fragte.«
»Aber warum haben Sie ihn denn gefragt?«, wollte Holland wissen und schüttelte den Kopf. Noch nie war er einem weiblichen Wesen begegnet, das so merkwürdige Dinge sagte und tat - und zwar nicht nur gelegentlich, sondern ständig.
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern«, gab Mary zu. »Vermutlich war ich neugierig. Und die Gesetze sind manchmal sehr interessant, müssen Sie wissen.«
»Potztausend. Da sollten Sie auf unserer Reise wohl auf mich aufpassen, Miss Finch.«
Die Abfahrt von Woodbridge ging in eher missgestimmter Atmosphäre vonstatten; alleine Marys offensichtlicher Frohsinn hellte die Szenerie auf. Mr. Dimcock, der Apotheker, der Mr. Tracey betreut hatte, stimmte Mary melancholisch zu, sie brauche sich keine Sorgen um das Gerichtsverfahren zu machen. Wenn sie nur noch so freundlich wäre, eine Adresse zu hinterlassen, wo man sie bei Bedarf ausfindig machen könne, wäre das ausreichend. Man sah Mr. Dimcock die Enttäuschung darüber an, dass Mary angesichts der Tragödie nur wenig besorgt aussah und keinerlei medizinische Hilfe benötigte. Selbstverständlich war es nicht an ihm, derlei Gefühlskälte zu kommentieren, aber insgeheim fand er dies sehr harsch und recht untypisch für eine junge Lady. Auch Mrs. Bamford verabschiedete sich kleinlaut von den Reisenden, denn im Great White Horse trauerte man, um dem Verblichenen Respekt zu zollen. Holland für seinen Teil litt noch an den Folgen der Diskussion über Beweise und Beweislast und bestieg wortlos die Kutsche.
Mrs. Bamford winkte der abfahrenden Kutsche mit einem Schnupftuch hinterher und seufzte inbrünstig. Unter anderen Umständen hätte sie noch hinzugefügt, wie schön es doch sei, dass ein so galanter Mann wie Captain Holland Miss Finch eskortierte, aber heute war sie einfach nicht ganz bei der Sache. Stattdessen drehte sie sich zu Mr. Dimcock um und wollte just fragen, wann der arme Mr. Tracey wohl abgeholt werde - schließlich war es ungut für das White Horse, eine Reputation als Ort zu bekommen, an dem man Leichen fand. Noch dazu lag der Leichnam in einem ihrer besten Zimmer. Doch als sie dies gerade sagen wollte, fuhr sie hoch, denn neben ihr stand nicht Mr. Dimcock, sondern ein weit unangenehmer aussehender Zeitgenosse: klein, mit hohlen Wangen und aschfahlem Gesicht sowie einem langen, speckigen Mantel bekleidet.
» Sie haben mich vielleicht erschreckt«, rief sie angewidert und trat instinktiv ein paar Schritte zurück. »Was fällt Ihnen ein, sich so von hinten anzuschleichen?«
»Keine Angst«, meinte der Hänfling, »wollte doch nur die junge Lady sehen, die wo dem armen Kerl nach dem Unfall geholfen hat. Das war sie doch, oder? Habe gehört, sie war wie ein Engel, ein regelrechter Engel, wie sie seine Hand gehalten und ihn in seinen letzten Stunden getröstet hat. Ich halte das für sehr freundlich.«
Bei diesen Worten entspannte sich Mrs. Bamfords Miene. »Genau das habe ich auch gesagt«, stimmte sie ihm zu, »ein regelrechter Engel und dazu noch ein so hübsches Ding. Sie ist fortgefahren, will ihren Onkel besuchen. Ist den weiten Weg von Cambridge gekommen, sagt man. Der Onkel soll wohlhabend sein. Warum er wohl keine Kutsche geschickt hat, um sie abzuholen.«
»Und wer war der andere Kerl?«, fragte er und wies dabei mit dem Kopf in die Richtung, in welche die Kutsche davongefahren war. »Ihr Begleiter?«
»Kann ich nicht mit Sicherheit sagen«, schnaubte die Wirtin nun, »aber Captain Holland - so heißt er - hat schon oft bei uns logiert, und es hat sich nie einer beschwert. Keine nächtlichen Kapriolen oder unbezahlte Zeche und immer sehr höflich.« Sie blickte auf den Fragenden hinunter, entschied sich dann aber doch dagegen zu erwähnen, dass der Captain sich nicht für den Unfall interessiert hatte. Schließlich war sie keine Klatschbase. »Immer
Weitere Kostenlose Bücher