Miss Mary und das geheime Dokument
ist es schon kurz vor zehn Uhr abends. Das war eine lange Fahrt, und so einen Unfall werden Sie wohl auch nicht alle Tage sehen. Es hat Sie …. Sie müssen sehr müde sein.«
Er klang auf einmal verdächtig anteilnehmend, sodass sie trotzig ihr Kinn anhob. Als Skeptiker war er ihr wesentlich lieber.
»Ja, ich bin müde, aber … glauben Sie wirklich, ich bilde mir das alles nur ein?«
»Nein, aber ich wette mit Ihnen, morgen werden Sie alles in einem ganz anderen Licht sehen.« Einen Moment lang hielt er inne. »Sie haben Ihren Onkel noch nie gesehen, und er weiß weder, was Ihnen widerfahren ist, noch, dass Sie auf dem Weg zu ihm sind.«
»Nein, aber …«
»Warum schreiben Sie ihm dann nicht und warten, bis Sie eine Antwort erhalten haben? Das ist hier eine ordentliche Herberge. Man wird sich um sie kümmern, und sobald Sie sicher sind, dass alles in Ordnung ist, reisen Sie weiter.« Nachdem er ihr seine Meinung dargeboten hatte, reichte er Mary die Uhren zurück und verschränkte wieder die Arme.
Mary wollte ihm schon widersprechen, besann sich dann aber doch eines Besseren und hielt den Mund. Sein platter und gleichzeitig überaus vernünftiger Rat leuchtete ihr ein. Zwar hätte ein Marineoffizier ihrer Ansicht nach etwas Interessanteres als einen Brief vorschlagen können, und doch war es so: Hätte sie ihrem Onkel vor ihrer Abreise aus St. Ives einen Brief zukommen lassen, dann säße sie jetzt nicht in der Patsche. Wenn sie doch nur ihre Reise an einem anderen Tag angetreten hätte, wäre Mr. Tracey ihr nie begegnet.
Trotz allem musste sie die Stille durchbrechen, denn Captain Holland saß vor ihr wie König Salomo, der soeben dafür plädiert hatte, das Neugeborene entzweizuschneiden. Aber noch bevor sie sich sammeln konnte, erschien Mrs. Bamford wieder, als ob das Stichwort Müdigkeit sie herbeigerufen hätte. Auch sie war der Ansicht, Mary solle sich zurückziehen, und sie wiederholte noch einmal, die junge Lady müsse »todmüde« sein. Eine weitere Unterhaltung mit Captain Holland war nun nicht mehr möglich, und so behielt er zu Marys Leidwesen das letzte Wort. Unter Mrs. Bamfords wachsamen Augen dankte sie ihm lediglich für seine Hilfe und wünschte ihm eine geruhsame Nacht.
Captain Holland blieb noch vor dem Kamin sitzen, während immer mehr Gäste sich anschickten, nach Hause oder nach oben in ihre Schlafkammern zu gehen. Seine Gedanken kreisten um Verschiedenes, aber sie kehrten immer wieder zu Miss Mary Finch zurück.Wenn sie nicht so verdammt hübsch gewesen wäre; wie sie da so rot anlief, als sie sich bei der Fischpastete verhaspelt hatte, hätte er sich ihre Geschichte wohl nicht angehört, auch wenn sie durchaus hörenswert war. Die Frage war nur, was man da machen konnte. Jedenfalls verkomplizierte es alles.
Eine Weile später gesellte sich Mr. Bamford zu ihm und fragte, ob er ihn für ein Glas Portwein erwärmen könne.
»Haben Sie keinen Brandy?«, entgegnete Holland grinsend. »Kleine Stippvisite auf den Kontinent gemacht, um den echten Stoff zu kriegen, was?«
»So was gibt es hier nicht«, antwortete Mr. Bamford scheinheilig und lächelte ihn an. Obwohl er nicht sehr redselig war, hatte Holland doch eine Begabung, Informationen aus anderen herauszukitzeln. Bei seinem Glas Port erfuhr er, dass es sich für Mr. Bamford nicht mehr lohnte, sich für einen mageren Gewinn und das zweifelhafte Vergnügen mit den Freihändlern möglicherweise Ärger mit den Zöllnern einzuhandeln, die immer geschickter wurden. Und dann waren da noch die beiden Männer, die man im letzten Jahr bei den Gerichtstagen wegen Schmuggelei gehängt hatte. Das hat den Leuten ganz bestimmt die Gottesfurcht wieder eingetrieben. Es gab doch nichts Besseres als eine Hinrichtung, um sich auf das Wesentliche zu besinnen. An der Küste sah es natürlich anders aus. Dort fürchteten die Freihändler weder den Zoll noch sonst irgendwen. Die Marine konnte auch nicht jedes Boot abfangen, und die am nächsten stationierten Soldaten befanden sich im Fort der Küstenwache und damit zu weit weg, um die Freihändler ernsthaft überwachen zu können.
»Na, dann mal viel Glück!«, sagte Holland, ohne hinzuzufügen, ob er damit die Schmuggler oder die Behörden meinte.
»Das sag ich auch immer. Leben und leben lassen.«
Auf diesen Ausspruch der Toleranz vermochte keiner von ihnen noch etwas draufzusetzen, sodass ihre Unterhaltung ins Stocken geriet. Holland leerte sein Glas und bemerkte beiläufig über den Gast, der am
Weitere Kostenlose Bücher