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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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was für einen grässlichen alten Mantel er trug? Nun am Johannistag gab es einen großen Ball auf Fordham, und alle glauben, dass das Mr. Grantley Molton zu verdanken war. Papa und ich, wir waren nicht dort, weil er Zahnweh hatte, und Maman meinte, ich sei zu jung. Aber sie und Susannah sind hingefahren. Und Susannah hat mir alles darüber erzählt. Maman trug ihre Diamanten, und Susannah meinte, sie sei auf der Hinund Rückfahrt aus lauter Angst vor Wegelagerern beinahe in Ohnmacht gefallen. Mir hätte es besser gefallen, wenn Wegelagerer gekommen wären.«
    »Mir auch. Was hat sie über Mr. Grantley Molton gesagt?«
    »Ich kann mich nicht entsinnen, dass sie jemals etwas über ihn gesagt hat. Nur Maman redet unablässig von ihm. Er ist ein sehr begehrter Junggeselle, musst du wissen. Und Susannah muss ja schließlich jemanden heiraten. Es wäre doch furchtbar, als alte Jungfer zu enden.«
    »Hm-m.«
    »Jetzt lass uns reingehen und frühstücken«, sagte Charlotte unbekümmert, packte ihren Cousin an der Hand und zog ihn hinter sich her.
    »Hoffentlich hat Papa noch nicht alle Würste aufgegessen. Dr. Chilcote sagt, sie seien nicht gut für ihn, und ich bin am Verhungern.«
     
    Auch Mary stand an diesem Morgen sehr früh auf. Es war noch überall still, und die Morgendämmerung zeigte sich erst als schwacher grauer Glimmer. Jeder, der gesehen hätte, wie sie nur in Strümpfen die Treppen hinunterschlich und ihre Straßenkleidung vorn im Gang überzog, hätte gewusst, dass sie ein geheimes Ziel verfolgte. Aber es sah sie niemand. Deshalb konnte sie Lindham Hall verlassen und sich allein auf den Weg nach Woodbridge machen. Dort hatte sie Wichtiges zu erledigen, und dies wollte sie unbedingt tun, ohne dass Mrs. Tipton ihr half oder auch nur davon wusste. Daher musste sie auch ohne deren Kutsche auskommen, aber einen Fußmarsch über sechs Meilen - oder doch eher um die vier Meilen, wenn man den Weg über die Felder ging -, nahm sie gerne in Kauf, um ungestört zu sein. Mrs. Tipton war eine reizende alte Dame und unter ihrer mäkeligen, harten Schale außerordentlich großzügig, aber sie musste immer alles selbst in die Hand nehmen, und Mary hatte das Gefühl, als sei sie die letzten Tage ziemlich unsanft von ihr an die Hand genommen worden. Heute würde ihr das alles jedoch nicht passieren.Was sie in Woodbridge zu erledigen hatte, ging Mrs. Tipton nichts an, und ihre Ansichten waren nicht erwünscht. Davon abgesehen hoffte Mary, sie könne alles rasch erledigen und nach Lindham zurückkehren, noch bevor überhaupt jemand von ihrer Abwesenheit Notiz genommen hätte.
    Derart angespornt, ging sie entschlossen den Weg entlang, der erst in den Ort Lindham hinein und dann weiter auf die Straße nach Woodbridge führte. Neben Matsch lauerte unter den Bäumen und in den Straßensenkungen ein fast durchsichtiger, kühler Dunst, aber Mary gewahrte diese Unannehmlichkeiten kaum, da sie Fußmärsche gewohnt war, egal wie das Wetter auch sein mochte. In ihrer Zeit bei Mrs. Bunbury war sie häufig zu Fuß gegangen, sofern ihre Pflichten ihr dies erlaubten. Da sie für gewöhnlich allein unterwegs war, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, Gedichte laut zu rezitieren, um so die Zeit zu überbrücken, wenn die Landschaft nichts hergab. Nun stellte sie sich gerade vor, sie segelte mit Sir Patrick Spens, und als sie, kurz bevor die Straße nach Woodbridge abbog, einen knorrigen, blattlosen Baum passierte, fragte sie sich, ob es nicht der Eildon Tree sein mochte, wo Thomas der Königin des Elfenlandes begegnet war. » ›Die Mähne ihres Pferdes hatte Locken, daran neunundfünfzig silberne Glocken klangen.‹ Was für ein Gebimmel.«
    In Woodbridge war noch kaum jemand erwacht, als sie vor einem großen, behaglich aussehenden Steinhaus mit gepflegtem Kiesweg und einer mit blutrot leuchtendem Wein bewachsenen Hauswand stand. Sonst wies nichts das Haus weiter aus, aber Mary wusste, dass die Adresse richtig war. Sie straffte ihre Schultern, stieg die drei Stufen bis zur Haustür hoch und betätigte energisch den Messingtürklopfer. Patienten, die am Morgen kamen, waren offenbar keine Seltenheit im Ivy House, denn auf Marys Klopfen hin öffnete alsbald eine unauffällig gekleidete Dienstmagd und bat Mary herein.
    Wenig später öffnete und schloss sich die Haustür ein weiteres Mal, als Mary wieder ging. Nachdenklich zog sie die Stirn kraus und streckte beim Anziehen ihrer Handschuhe die Finger. Als sie durch das Knirschen des Kieses

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