Miss Monster
hoch. Manchmal streiften die Spitzen an den Knien entlang, als wollten sie den sechzehnjährigen Neuankömmling begrüßen.
Wiebke lief jetzt schneller. Ein Gefühl sagte ihr, daß es Zeit wurde. Sie mußte sich beeilen, wenn sie pünktlich um Mitternacht an dem Ort sein wollte, wo es passierte.
Auf ihr Gesicht trat ein Lächeln, als sie daran dachte. Alle sprachen über den Sumpf, jeder wußte etwas, aber es gab keinen, sie ausgenommen, der genau informiert war.
Der Zaun lag bereits so weit zurück, daß er selbst im Mondlicht nicht mehr zu sehen war. Zudem veränderte sich der Untergrund. Er war nicht mehr so fest wie sonst, wurde weicher, an manchen Stellen sogar glatt und schlammig.
Drei krumme Bäume wuchsen auf einem kleinen Hügel. Sie sahen aus wie alte Gespenster, die sich vor einem noch größeren Geist verbeugten. Das Trio der Bäume war für Wiebke ein Fixpunkt. Sie umrundete den Ort und sah vor sich eine dunkle, dennoch auf der Oberfläche geheimnisvoll schimmernde Fläche, auf die sich das bleiche Mondlicht wie ein Schleier verteilt hatte.
Ein See.
Sie nannte ihn so. Andere sagten verfluchter Tümpel dazu. Das Ufer war auch bei Tageslicht kaum zu erkennen, weil Schilfrohre, hohes Gras und anderes Buschwerk es verdeckten. Alles filzte ineinander und bot so gut wie kein Durchkommen.
Doch es gab einen Weg, und Wiebke kannte ihn.
Sie lief darauf zu, sprang über einen vorstehenden Buckel hinweg und landete in einer kleinen Mulde, die sich zum Gewässer hin verengte. Ein Steg war nicht vorhanden. Um das versteckte Boot zu erreichen, mußte sie schon in den Schilfgürtel hineingehen.
Die Erde war sehr weich geworden. Wiebke sank ein. Der Rand schwappte bis zu den Rändern ihrer hohen Schuhe. Sie dachte daran, daß die Lehrer des öfteren die Schuhe der Schüler kontrollierten, um zu sehen, ob jemand in der Nacht ausgerissen war.
Sollten sie, es störte sie nicht. Nicht mehr…
Die Schilfrohre schienen von unsichtbaren Händen umklammert zu werden, die ihr einen gewissen Widerstand entgegensetzten. Sie waren sehr sperrig, und das junge Mädchen mußte sich schon anstrengen, um den richtigen Weg zu finden.
Dann hatte es Wiebke geschafft!
Sie sah das dunkle Wasser, die Blätter und die Seerosen darauf, die am nahen Ufer auf den leichten Wellen schwammen. Der Wind glitt wie der Atem eines fremden Wesens über die Wasserfläche hinweg. Wiebke bückte sich, mußte noch einen Schritt vorgehen, um das Boot zu erreichen. Ihre Beine patschten durch das Wasser. Sie lauschte den dabei entstehenden Geräuschen und blickte – noch in gebückter Haltung – über den kleinen See hinweg.
Bis zur Mitte mußte sie rudern. Wenn alles gutging, würde er sich ihr dort offenbaren.
Sie stieg in den alten Kahn. Sein Holz war im Lauafe der Zeit weich geworden, und auch die Sitzbank in der Mitte war schon längst angefault.
Ihr stand nur ein Paddel zur Verfügung. Nicht gerade einfach, damit den Kahn zu bewegen, aber Wiebke hatte schon oft genug üben können. Sie legte ab und stach dabei das Paddel in den Grund, der ihr kaum Widerstand entgegensetzte. Die Fläche war weich. Schlamm, Schlick, vielleicht auch Unrat bedeckten sie.
Sie bewegte sich vom Ufer weg. Einige Schilfrohre bogen sich ächzend zur Seite, als der Bug des alten Kahns in die schmalen Lücken zwischen sie glitt.
Sehr bald hatte Wiebke die Uferregion verlassen. Mit immer gleichen, rhythmischen Bewegungen tauchte sie das Paddel ins Wasser, sie wechselte dabei auch die Seiten, so daß sie nicht in Gefahr lief, in eine Richtung abzudriften.
Je mehr sie sich der Mitte des Sees näherte, um so größer wurde ihre Spannung. Sie hatte in ihrem Körper ein Netz gewoben, brachte Hitze mit, die durch alle Adern flutete und auch hochstieg, bis sie ihren Kopf erreichte.
Ich bin die Prinzessin, schoß es ihr durch den Kopf. Ich fahre über den verwunschenen See, in dem sich ein geheimnisvoller Prinz vor langer Zeit ertränkt hat und nun auf die Erlösung wartet. Auf einmal fühlte sie sich so frei. Selbst ihr Gesicht – tagsüber meist verschlossen und fast schon böse blickend – hellte sich auf, als wäre es von herrlichen Sonnenstrahlen gewärmt worden.
Wiebke spürte die andere Energie in sich. Sie war einfach nicht zu beschreiben, sie beflügelte sie, gab ihr die nötige Kraft, um das Paddel noch schneller in das dunkle Wasser zu stechen. Sie schaute auf die Wellen. Deren Kämme hatten glitzernde Kanten bekommen und wurden vom Mondlicht
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