Miss Pettigrews grosser Tag
Haut.«
Sie hüllte sich in den geliehenen Pelzmantel. Miss
LaFosse erschien in einem traumhaften schwarzen Umhang mit einem Silberfuchskragen. Hastig raffte sie Handschuhe, Taschentuch und Abendtäschchen zusammen.
»Liebe Güte, ich darf gar nicht daran denken, wie spät wir dran sind!«
Mit einem Mal hatte sie es wieder fürchterlich eilig. Sie stürmte zur Tür. Miss Pettigrew trottete hinterher. Falls das Gewissen sein zartes Stimmchen erhob, stellte Miss Pettigrew sich eisern taub. Niemand, weder der König von England noch der Kaiser von China, würden sie um dieses Vergnügen bringen. Sie hatte eine Entschuldigung. Die Ereignisse hatten sich an jenem Tag derart überstürzt, dass sie anführen konnte, nicht mehr ganz sie selbst zu sein. Sie befand sich in einem Zustand geistiger Verzückung, und das sprach sie von mehr als nur einer Verirrung frei.
Sie hüpfte Miss LaFosse hinterher; ihre natürliche Gesichtsfarbe vertiefte die künstliche, ihre Augen leuchteten, ihr Atem ging stoßweise. Abenteuer standen ihr bevor, das Piratennest war ein Nachtclub. Was würde ihre selige Mutter sagen, wenn sie aus dem Grab auferstehen könnte? In welche Abgründe an Verderbtheit war ihre Tochter gesunken? Was kümmerte es Miss Pettigrew? Nichts. Schlankweg und ohne alle Gewissensbisse konstatierte sie diese Tatsache. Ihr stand eine wilde Nacht bevor. Heute würde sie die Puppen tanzen lassen. Und noch einen von Tonys Cocktails probieren. Sie war eine feine Dame, die sich amüsieren wollte – und, o ihr Schatten der öden Vergangenheit, in Saus und Braus würde sie leben! Sie gedachte sich zu vergnügen, wie sie sich nie zuvor vergnügt hatte, und keine Moralpredigt der Welt würde sie davon abhalten. Sie, die angeblich kein Wässerchen trüben konnte, würde es ihnen schon zeigen, dass stille Wasser tief waren.
Strahlend trabte sie hinter Miss LaFosse her durch
den Flur. Diese wollte nicht auf den Lift warten, sondern preschte die Treppe hinab, Seite an Seite mit Miss Pettigrew. Auf den Pfiff des Portiers kam ein Taxi mit quietschenden Reifen zum Stehen. Miss LaFosse beugte sich zu dem Chauffeur hinunter, doch Miss Pettigrew schob sie beiseite.
»Zum Blauen Pfau«, sagte sie in ihrem hochnäsigsten Ton, »und zwar zackig.«
Sie stiegen ein, der Motor heulte auf, und schon sausten sie durch die erleuchteten Straßen. Miss Pettigrew saß bleistiftgerade und starrte mit glänzenden Augen aus den Fenstern. Trotz des nasskalten Novemberwetters hatten die Straßen nichts Trostloses mehr. Märchenhafte Schilder glitzerten an Fassaden. Magische Hupen ließen ihr Signal erschallen. Palastbeleuchtung tauchte die Gehwege in strahlenden Glanz. Avalon summte, pochte, pulsierte, erzitterte vor Leben. Melonen tragende Ritter und liebreizende Damen eilten munteren Blicks zauberhaften Zielen entgegen. Miss Pettigrew eilte mit ihnen, wenn auch sehr viel vornehmer als auf ihren eigenen zwei Beinen! Nun hatte sie selbst ebenfalls ein Ziel. Was das doch ausmachte! Wie ungeheuer viel das ausmachte! Nun lebte sie. War mitten im Geschehen. Nun nahm sie teil. Sie atmete ambrosische Dünste.
Miss LaFosse, die schlank und anmutig in tadelloser Haltung und Aufmachung neben ihr saß, war ihre Freundin. Sie, Miss Pettigrew – alte Jungfer, angejahrte Gouvernante, traurige Figur ohne Stellung, taube Nuss – fuhr zu einem Nachtclub, prächtig gewandet, geschminkt wie die Besten, schamlos wie die Schlimmsten unter ihnen, und schwebte im siebten Himmel.
»Oh!«, dachte sie verzückt. »Könnte ich doch in dieser Nacht sterben, bevor ich aus dem Traum erwache.«
Sie waren da.
ZWÖLFTES KAPITEL
0:16-1:15
M iss Pettigrew starrte auf das hohe, dezente, gediegene Gebäude. Ihre Euphorie verflog. Vorwurfsvoll beäugte sie ihre Begleiterin. Miss LaFosse wollte sie doch nicht etwa enttäuschen? Das sollte ein Nachtclub sein? Über einer zweiflügeligen Tür glomm ein schwaches Licht. Ein Portier verbeugte sich höflich.
»Ein scheußlicher Abend, Miss LaFosse.«
»Allerdings, Henry.«
Miss LaFosse stieg die Stufen empor. Miss Pettigrew folgte in einigem Abstand. Die Eingangstür tat sich auf und schloss sich hinter ihr. Miss Pettigrew schnappte nach Luft. Ihr bot sich ein wahrhaft prächtiger Anblick. Sie standen in einem großen Vestibül, umweht von Licht und Farben, Musik und Düften. Am anderen Ende führte eine ausladende Treppe in die oberen Regionen. Frauen in traumhaften Roben schlenderten vorbei, begleitet von Männern in ihren
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