Miss Seeton und der Hexenzauber
nicht vorenthalten werden. Mord ist wichtig. Etwas Sensationelles war passiert, und Reporter, Fernsehteams und Schaulustige reisten an. Alle genossen den Schauer des Entsetzens, wie immer, wenn sich etwas so wunderbar Grauenvolles ereignet. Der Schauplatz, an dem sich der Mord an Mrs. Paynel abgespielt hatte, wurde fotografiert und gefilmt, und die Bilder rührten die mitfühlenden Herzen der Öffentlichkeit. Ein schönes Mädchen, nackt, dekorativ verstümmelt, möglicherweise vergewaltigt oder sogar Opfer eines Hexenrituals – ein wahrhaft romantischer Tod: geopfert auf dem Altar einer Kirche.
Busreisende änderten in aller Eile ihre Route. Die Touristen, die bewaffnet mit Scheren und Messern Souvenirs aus der Kirche schabten und schnitten, wurden von der Polizei, der es an jeglichem Sportsgeist mangelte, verjagt und fielen in Plummergen ein. Sie belagerten das George and Dragon, wo das Opfer gewohnt hatte und zum letztenmal lebend gesehen worden war. Nachdem sie von dem Jägerball in Maidstone gehört hatten, wollten sie Nigel in Rytham Hall einen Kondolenzbesuch abstatten, aber Sir George und Lady Colveden hielten ihren Sohn von allem fern, versperrten die Tore und schlichen selbst durch einen Seitenausgang aus dem Haus. Zwei volle Tage sonnten sich die Dorfbewohner in Ruhm und Glanz, erzählten von ihren Erlebnissen – »Die Schirmreiterin auf dem Glockenturm« lautete die Überschrift der beliebtesten Geschichte –, wurden in Zeitungen zitiert und von Fernsehkameras aufgenommen. Sie deuteten auf die Wache vor Miss Seetons Haus: Vielleicht stand sie ja unter Arrest! Einem besonders einfallsreichen Fotografen gelang es, den obersten Rand von Miss Seetons Hut aufzunehmen, indem er sich auf das Dach eines Autos stellte und die alte Dame über die Mauer hinweg fotografierte, als sie Unkraut jätete. Der Trubel ließ so plötzlich nach, wie er angefangen hatte – in anderen Teilen des Landes tat sich Interessanteres: Die Frau eines bekannten Parlamentsmitglieds hatte ihrem Mann eine Scheidungsklage geschickt und seinen Neffen als Scheidungsgrund angegeben. Diese Auseinandersetzung versprach ein außergewöhnliches Gerichtsverfahren und war aufsehenerregender als eine tote Frau, zudem versprach dieser Fall Storys und Enthüllungen, die über Wochen und Monate hinweg die Zeitungen füllen konnten.
Plummergen war wieder sich selbst und seinen Angelegenheiten überlassen. Aber diesen Angelegenheiten fehlte mit einemmal die rechte Würze. Die Dorfbewohner taten ihr bestes und ergriffen Partei: Die einen verunglimpften Miss Seeton und diejenigen, die nicht ihrer Meinung waren, Schmähungen wurden über die Polizei und Nigel Colveden ausgeschüttet; finstere Andeutungen wurden gemacht. Aber all das führte zu nichts, den Andeutungen fehlten konkrete Grundlagen, und die Bevölkerung war verloren ohne ihre Anführerinnen und Hauptinformantinnen. Wo waren Mrs. Blaine und Miss Nuttel?
Unter der Kirche von Iverhurst erwarteten mehr als zweihundert Anhänger von Nuscience selbstzufrieden den Weltuntergang und die Ausrottung ihrer Verwandten und Bekannten. In der Zeit bis zu dem großen Ereignis bereiteten sie sich darauf vor, die Saat einer neuen Zivilisation auszustreuen – entweder auf diesem oder auf einem anderen Planeten würden sie Neues erschaffen und große Werke tun. Es lag an ihnen selbst, wie ihre neue Welt aussehen sollte, sie mußten nur fleißig ihre Atemübungen machen, dann stand einer Astralreise nichts mehr im Weg. Der große Keller war mit Vorhängen in drei Kammern unterteilt: Eine war der Schlafsaal für die Frauen, in der zweiten kampierten die Männer, und die dritte war ein notdürftiger Gemeinschaftsraum. Hier hielten sich die Gläubigen die meiste Zeit auf, übten richtig atmen und unterhielten sich.
Sie lösten Kreuzworträtsel, spielten Spiele, lasen oder träumten von der schöneren Welt. Die Unbequemlichkeiten, die knapp bemessenen Essensrationen und die ungenügenden sanitären Verhältnisse – ihre Notdurft verrichteten sie unter der Krypta – erduldeten sie ohne Klagen, da sie sich ihrer überragenden Bedeutung für die neue Menschheit, die bald ihre Geburtsstunde erleben würde, bewußt waren.
Der kleinere Keller, der zu dem Tunnel und den Ausgängen führte, war verbotenes Territorium und den höheren Ränge der Organisation vorbehalten. Soweit bekannt war, überbrückte hier der Meister, umgeben von seinen Akoluthen, den Trompetern und der Majordomus-Riege, die
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