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Miss Seetons erster Fall

Miss Seetons erster Fall

Titel: Miss Seetons erster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heron Carvic
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Drinnen lag, von Seidenpapier an Ort und Stelle gehalten, unter durchsichtiger Plastikfolie ein schlanker schwarzer Seidenschirm, an dessen Messingkrücke eine Visitenkarte festgebunden war. Wer konnte ihr den geschickt haben? Miss Seeton hielt den Schirm schräg, um das Kärtchen zu lesen. Hinter ihr klickte es. Wie? Sie drehte sich um. Ach ja, die Schranktür, natürlich. Sie war mit dem Schirm angeeckt und hatte sie zugeschlagen. Wie dumm von ihr. Immer vergaß sie, wie eng der Flur war. Sie betastete die Schirmspitze – nein, sie war heil geblieben. Martha hatte sie ja davor gewarnt, die Tür unverriegelt zu lassen, weil das Schloß so leicht von selber aufging und man sich im Dunkeln schauderhaft stoßen konnte. Aber sie hatte den Schrank doch. ja, sie hatte ihn bestimmt verriegelt. Heute morgen, vor dem Weggehen, nachdem sie den Staubsauger hineingestellt hatte. Na ja, offenbar doch nicht. Wie gedankenlos – sie hätte sich leicht weh tun können. Miss Seeton schob den Riegel vor und ging ins Wohnzimmer, um die Visitenkarte zu entziffern.
     
    SUPERINTENDENT DELPHICK, CRIMINAL INVESTIGATION DEPARTMENT, NEW SCOTLAND YARD.
     
    Wie nett! Aber warum eigentlich? Sie drehte die Karte um; auf der Rückseite stand etwas Handschriftliches.
     
    Als Entschädigung für Ihren Verlust in Erfüllung Ihrer Pflicht. A. D.
     
    Sie war völlig überwältigt. So reizend. Wirklich zu liebenswürdig. Und daß er daran gedacht hatte, daß man Krücken lieber hatte, weil sie soviel praktischer waren als Lederriemen, bei denen die Steppstiche immer aufgingen.
    Ein Stempel an der Krücke fiel ihr auf. Sie besah ihn sich genauer. Um Himmels willen! Es war kein Messing. Es war Gold.
    Voll Stolz hängte sie den neuen Schirm an den Haken über dem Schirmständer. Für Tee war es schon reichlich spät. Und sie war müde. Nein, sie entschloß sich, hinaufzugehen und ihre Turnübungen zu machen. Es wäre ein Jammer, sie ausfallen zu lassen, denn das schien ihr tatsächlich gut zu tun. Und dann konnte sie sich ihr Tablett aus der Küche holen und gemütlich im Bett ihr Abendbrot verzehren.
    Als die Eieruhr klingelte, ließ Miss Seeton in der Ecke ihres Schlafzimmers die Füße zu Boden sinken.
    Sieh an, von Tag zu Tag ging es besser. Aber ihre Füße waren doch wieder mit lautem Plumps auf dem Boden gelandet. Einen Augenblick lang blieb sie sitzen, den Kopf gesenkt, und atmete tief und regelmäßig. Nanu. vielleicht waren es doch nicht ihre Füße gewesen. Ja, unten klopfte jemand. Miss Seeton zog den Morgenrock über, eilte in das zur Straße gelegene Zimmer und sah aus dem Fenster. Nein, es war niemand da. Entweder hatte sie sich geirrt, oder es war im Nachbarhaus. Sieben. acht. Nein, sie hörte auf, ihre Atemzüge zu zählen und lauschte. Diesmal war es ganz deutlich. Jemand klopfte. Und es war hier – man spürte deutlich die Vibration. Sie zog die Füße von den Oberschenkeln, streckte die Beine aus, stand rasch auf und taumelte. Ogottogott, man mußte sich Zeit lassen, natürlich. Ein bißchen massieren und sich dann nach vorn beugen, erst dann durfte man aufstehen. Sie zog wieder den Morgenrock an und ging die Treppe hinunter.
    An der Haustür war niemand. Verdutzt blieb sie stehen. Zweimal noch meinte sie ein leises Klopfen zu hören, schwächer als vorher. Wahrscheinlich ein Zweig, der gegen ein Fenster schlug. Kopfschüttelnd ging sie in die Küche.
    Am besten, sie holte sich gleich das Tablett mit ihrem Abendessen und nahm es mit hinauf, da sie sowieso schon unten war. Sie hätte zwar noch eine Übung machen müssen, aber jetzt hatte sie keine Lust mehr.
    Am Fuß der Treppe hörte sie ein Geräusch – es klang wie ein Rutschen, und dann bumste etwas gegen die Schranktür. Sie beugte sich vor, um das Tablett abzusetzen.
    Ogottogott. Wahrscheinlich der Staubsauger. Heute morgen hatte sie es eilig gehabt und nicht genau gewußt, ob sie ihn richtig auf diese Kiste gestellt hatte. Sie mußte den Schrank einmal gründlich aufräumen und mehr Platz machen. Aber. Nein. Nicht heute abend. Sie war zu müde. Miss Seeton richtete sich auf und begann, die Treppe hinauf zu gehen. Martha und sie konnten morgen nachsehen. Was da auch umgefallen war – man konnte es eben so gut morgen wieder an seinen Platz stellen.
     

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