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Miss Seetons erster Fall

Miss Seetons erster Fall

Titel: Miss Seetons erster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heron Carvic
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helfen.«
    »Aber warum ist er dann weggerannt?«
    Sie schien verwirrt. »Ach, da war doch noch das Mädchen – so schlechte Manieren. Andererseits, er ist ja kein Engländer … Das erklärt manches.«
    »Ein Mädchen? Was für ein Mädchen?«
    »Sie haben da in der Tornische gestanden. Sie hat ihn angefaucht, es klang, als ob sie ihn beschimpfte, und da hat er sie geschlagen. Und ich habe mich eingemischt, fürchte ich. Wissen Sie«, fuhr sie energisch fort, »ich finde, junge Leute müssen lernen, sich anständig zu benehmen. Meinen Sie nicht? Auch im Ausland.«
    Der Mann blickte zu der leeren Tornische hin, trat an das davor parkende Auto, und als er sich über die Motorhaube beugte, sah er das Mädchen zusammengekrümmt in dem Winkel zwischen Kotflügel und Hauswand liegen.
    »Großer Gott – Sie haben recht. Er hat sie niedergeschlagen. Moment mal, ich lehne sie gegen die Tür.«
    Miss Seeton trat näher heran, um ihm zu helfen. »Anscheinend ohnmächtig, die Arme. Oh.« Sie stieß einen leisen Schrei aus. Der Mantel des Mädchens war auseinander gefallen, und das Scheinwerferlicht ließ den Messergriff aufglänzen, der aus ihrer Seite ragte. »Nein, nicht bewegen! Warten Sie. Wir brauchen einen Arzt. Da – sehen Sie: ein Dolchstich.«
    Dolchstich. Natürlich, was denn sonst. Das hatte ja kommen müssen. Wie grell das Licht war. Und die Gasse wurde immer steiler. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, lehnte sich Miss Seeton an ein Auto. Scheinwerfer. Orangen – Sevilla. Natürlich – es war nicht das erste Mal. Sie hatte es miterlebt – schon einmal miterlebt.
    Jemand sprach auf sie ein. »Ein Arzt kann nichts mehr tun. Sie ist tot. Wir müssen die Polizei holen.« Der Mann sah die kleine Gestalt fast ehrfürchtig an – schiefsitzender Hut, verrutschter Mantel, behandschuhte Hände, die noch immer den Schirm umklammerten. »Sie meinen, Sie haben es mit angesehen? Warum hat er das getan?«
    Miss Seeton straffte sich. »Er konnte nicht anders«, erklärte sie. »Der letzte Akt.« Sie schüttelte den Kopf. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft. »Aber es ist so töricht. Und so. so unnötig.«
    »Noch eine Tasse Tee, Miss?« Der Constable im Polizeirevier Bow Street wollte mit diesem Vorschlag nur das unbehagliche Schweigen unterbrechen.
    Miss Seeton besah sich den klebrigen Rest in ihrer Tasse, der so etwas wie gezuckerter Tee zu sein schien. »Ja, gern. Sehr nett von Ihnen.« Obgleich es warm im Zimmer war, fröstelte sie immer noch ein wenig. »Wenn ich ganz schwachen Tee haben könnte – fast nur Wasser – und ohne Zucker, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
    »Und Sie wollen wirklich nichts essen? Es wird nämlich noch eine Zeitlang dauern.«
    »Nein, danke, bestimmt nicht. Ich habe vor der Oper zu Abend gegessen. Aber.«, sie zögerte, »… ob Sie wohl so freundlich wären und sich nach meiner Handtasche erkundigen könnten? Das beunruhigt mich ein bißchen. Es ist schon spät, und ich habe kein Geld bei mir – und außerdem ist mein Hausschlüssel drin.«
    Der Constable, schon an der Tür, drehte sich um. »Lassen Sie sich deshalb keine grauen Haare wachsen, Miss. Wir bringen Sie schon nach Haus. Und wegen Ihrer Tasche wissen die Jungens ja Bescheid. Wenn sie da ist, wird sie bestimmt gefunden, und das melden sie dann sofort. Außerdem kann’s nicht mehr lange dauern, bis der Yard kommt. Ich geh jetzt und besorg Ihnen den Tee.« Mit einem Seufzer der Erleichterung machte er die Tür hinter sich zu. Komisches Tantchen. Müßte eigentlich mit den Nerven fix und fertig sein, und dabei war sie so ruhig wie sonst was. Wahrscheinlich, weil sie Lehrerin war. Wer heutzutage mit Kindern fertig wurde, den konnte nichts mehr erschüttern.
    Miss Seeton blickte auf, als die Tür aufging. Herein trat ein trüber Heidetag, ihm auf den Fersen ein Fußballer. Also nein – jetzt ging die Phantasie mit ihr durch. Sie mußte übermüdet sein. Nächstens sah sie die Menschen als Formen mit Löchern drin. Ein durchaus normaler, hochgewachsener, robuster Mann mittleren Alters in Tweed, hinter ihm ein durchaus normaler, allerdings massiger und strubbeliger junger Mann in Dunkelgrau. Aber es half nichts. Sie glaubte noch immer grauen Himmel und vom Wind bewegtes Heidekraut vor sich zu sehen. Und daß der junge Mann einen Anzug trug, war reine Verschwendung. Ebenso gut – oder besser – hätte er einen meterlangen, gestreiften Wollschal, Shorts und diese komischen Strümpfe tragen können, bei denen man immer an Alice

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