Miss Seetons erster Fall
aus.
Lächelnd wandte er sich an Bob: »Andererseits, junger Mann, wenn Sie mal einen Job brauchen, sagen Sie mir Bescheid. In flauen Zeiten können wir das Geschäft immer dadurch beleben, daß wir Sie als Anschaffer engagieren.«
Bob stand da, mächtig groß und mächtig verlegen. Er öffnete den Mund, wollte Erklärungen und Entschuldigungen hinausstottern, aber die Inspiration ließ ihn im Stich, und sein Mund schloß sich wieder.
»Angesichts Ihrer begreiflichen Unruhe«, fuhr der Arzt heiter fort, »und um den neugierigen Fragen zuvorzukommen, die Ihnen auf der Zunge liegen, gebe ich Ihnen am besten gleich die neuesten Informationen über Ihre Patientinnen.« Bob stutzte: Mrs. Venning, Miss Seeton – er hatte sie vergessen. »Deshalb übrigens habe ich Ihr. ehern, Gespräch mit meiner Tochter unterbrochen. Mrs. Venning geht es einigermaßen, glaube ich, obwohl das Herz vermutlich angegriffen ist. Ein Besuch bei ihr kommt leider nicht in Frage. Selbst bei vollständiger Ruhe ist alles noch zwei, drei Tage auf der Kippe. Miss Seeton dagegen – sie ist frisch wie ein Fisch im Wasser. Eine ungewöhnliche Spannkraft. Ich wünschte, ich wüßte ihr Geheimnis. Sie muß aus Gummi sein. Von mir aus können Sie jetzt mit ihr reden. Sie wollte nach Hause, aber ich hab’s ihr verboten. Sie muß Ruhe haben, auch wenn sie nicht will. Ich habe angeordnet, daß sie im Bett bleibt.«
Hinter ihm gab Miss Seeton ein höfliches Hüsteln von sich. Dr. Knight fuhr herum und versperrte ihr den Weg. »Gehen Sie sofort wieder ins Bett. Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen liegenbleiben.«
Miss Seeton lächelte ihm zu und hielt ihm die Hand hin. »Ja, ich weiß, Doktor, ein so liebenswürdiger Vorschlag von Ihnen, aber ich bin völlig erholt, und es würde mir nicht im Traum einfallen, Ihnen noch länger Unannehmlichkeiten zu machen. Die Schwester sagt mir, daß es Mrs. Venning ein wenig besser geht. Welche Erleichterung. Also nochmals vielen Dank.« Sie zog ihre Hand zurück: »Ich muß wirklich gehen.«
14
Es war vorbei. Superintendent Delphick, der mit Sergeant Ranger im Zug nach London zurückfuhr, fühlte sich niedergeschlagen. Dabei war die Verhandlung vor dem Gericht in Maidstone verhältnismäßig gut gegangen. Dem jungen Rotschopf, wie die Zeitungen ihn nannten, hatte die Taubstummheit nichts genützt: Er blieb auf unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft, unter ärztlicher Aufsicht – also eingesperrt, bis er den Mund aufmachte, und wenn er den Mund aufmachen sollte, dann würde er eingesperrt, weil er den Mund aufgemacht hatte. Sein Verteidiger hatte sich gut geschlagen, und es hatte etwas bedenklich ausgesehen – bis Miss Seeton angefangen hatte, sich über den ihrem Hut zugefügten Schaden zu beschweren. Man konnte sich wirklich auf sie verlassen: In kritischen Augenblicken zauberte sie bestimmt ein Kaninchen aus dem Zylinder. Von da an, nachdem sich das Gelächter gelegt und man im Gerichtssaal die Ordnung wiederhergestellt hatte, war alles glatt gelaufen. Der Sprecher der Geschworenen konnte es kaum abwarten, bis der Richter mit seiner Belehrung der Jury fertig war – sofort danach sprang er auf, um sein populäres, wenn auch unkonventionelles Verdikt zu verkünden: »Wir brauchen uns nicht zurückzuziehen, Euer Ehren, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Er ist schuldig in allem, was Sie gesagt haben, und in noch mehr, finden wir.« Dem Mr. Trefold Morton war ebenfalls eine ganz schöne Zeit aufgebrummt worden, wegen Veruntreuung. Daß man ihm später auch noch die Rauschgiftgeschichten nachweisen konnte, schien nicht ausgeschlossen, aber das war nicht seine Sache, das war Sache des Rauschgiftdezernats. Chris Brinton und dessen Kollegen in Ashford waren ganz zufrieden: Der Fall hatte in ein paar dunkle Ecken ihres Bezirks Licht gebracht. Aber was ihn selbst betraf – er hatte schließlich den Auftrag gehabt, Lebel zu erwischen. Und den hatte er nicht erwischt. César war um sie herumgekreist. Aber nur Miss Seeton hatte ihn zu Gesicht bekommen, und sie schien durchaus imstande, mit ihm allein fertig zu werden, ganz gleich, wann und wo er ihr über den Weg lief. Wenn César sie in der vergangenen Woche noch einmal attackiert hätte, als die Polizei Gewehr bei Fuß gestanden hatte und auf alles gefaßt gewesen war. Aber anscheinend hatte Lebel sein Pulver verschossen und die Sache aufgesteckt. Miss Seeton mußte demnach außer Gefahr sein. Und Constable Potter würde die Augen offen halten. Sicher tauchte César
Weitere Kostenlose Bücher