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Miss Wyoming

Miss Wyoming

Titel: Miss Wyoming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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ihm die Krankheiten seiner Kindheit ins Gedächtnis. Eine unschöne Erinnerung, wie er Melody in schroffem Ton wissen ließ.
    »Excusez-moi. Ich wollte nur nett sein. Schließlich musste ich nicht herkommen. Ivan hat mich aus der Schweiz angerufen und mich zum Wacheschieben verdonnert. Außer mir war keiner von deinen Freunden hier.« 
    »Mel ...«
    »Oh, Mist.« Melody spürte, dass sie zu weit gegangen war. »Tut mir Leid, John. Um ehrlich zu sein - deine Mutter hat achtundvierzig Stunden lang hier kampiert. Ich habe sie zum Schlafen nach Hause geschickt.« 
    »Vergiss es.«
    »Nein. Es tut mir schrecklich Leid, dass ich so gemein war. Wo du doch so krank bist.« Ihre Augen suchten Halt. »Ich weiß -wenn du rauskommst, hab ich 'n ganz wunderbares Willkommensgeschenk für dich: Zwillinge!«
    »Ich will keine Zwillinge, Mel. Scheiße, ich will niemanden. Nichts und niemanden.«
    »Wie wär's mit 'ner Prise Koks, John?« Melody holte eine rosafarbene, herzförmige Hello-Kitty-Dose aus ihrer Handtasche aus Kalbsfötenleder. »Frisch aus den falschen Titten von Miss Bolivien. Mmhh.« Sie hielt John die Dose hin, und er schubste sie mit einer abwehrenden Handbewegung weg, gerade so heftig, dass man ihm Absicht unterstellen konnte. Die Dose fiel zu Boden, und ihr Inhalt zerstob in alle Richtungen. »John! Das war wirklich blöd.«
    »Bitte, Mel. Ich fühl mich nicht besonders. Ich möchte allein sein.«
    »Ach, wie süß - du redest wie ein Simon-and-Garfunkel-Song. Du weißt ja, wer deine Freunde sind. Und denk dran - Zwillinge! Dazu noch aus Florida.« John starrte sie an.
    »Ich geh jetzt, John, bevor du noch so was Dummes sagst. Ich werde diese Quasselstrippe von Schwester draußen informieren, dass du wach bist. Au revoir, Johnny-Baby.«
     

Kapitel Vier
     
     
    Susans früheste Erinnerung war ihr unauslöschlich im Gedächtnis geblieben. Sie war viereinhalb und stand in einem perlenbesetzten, trägerlosen Abendkleid - finanziert durch den Verkauf von Kaninchen, die ihre Mutter Marilyn in Käfigen neben dem überbreiten Wohnwagen zu Hause in McMinnville züchtete - im Aufzug des Benson Hotels in Portland, Oregon.
    Marilyn hatte unzählige Stunden an den Perlenstickereien gearbeitet und sich durch flüchtige Blicke an die Wände inspirieren lassen, die mit Fotos von Abendkleidern aus Modemagazinen und Fachzeitschriften zum Thema Schönheitswettbewerbe tapeziert waren. Außerdem hatte sie vor kurzem eine Heißkleberpistole gekauft und sich fest vorgenommen, Gürtel und andere Accessoires mit Glitzerzeug zu verzieren. Susans Gesicht war dick mit Schminke zugekleistert, damit sie fünfzehn Jahre älter aussah, als sie war. Sie trug eine Rayon-Schärpe schräg über der Brust, auf der PETITE MISS MULT-NOMAH COUNTY - ZWEITER PLATZ stand, und ihr Gesicht war vom Weinen so nass, dass es sich anfühlte wie ein nicht ausgewrungener Spülschwamm. Sie erinnerte sich, dass sie die Knöpfe für alle Stockwerke gedrückt hatte. Sechzehn Mal öffneten sich die Türen vom Dachgeschoss bis in den Keller, aber Marilyn war nirgends zu sehen. Vorher, kurz bevor Susan auf die Bühne gegangen war, hatte Marilyn sie bei den Schultern gepackt, ihr fest in die Augen  geschaut und gesagt: »Nur das hübscheste und wohlerzogenste Mädchen gewinnt, und wenn du den Titel nicht holst, werde ich hinterher nicht auf dich warten. Hast du das verstanden? Ist das klar?« Susan hatte genickt und war mit der geschmeidigen militärischen Präzision auf die Bühne gegangen, die Marilyn ihr auf einem provisorischen Laufsteg eingehämmert hatte, den sie am Ende der Sackgasse zu Hause in McMinnville mit Kreide auf den Beton gemalt hatte. Trotzdem hatte sie nicht gesiegt, und sie hatte keine Ahnung, was sie falsch gemacht hatte. Sobald der Aufzug das unterste Stockwerk erreicht hatte, drückte Susan erneut alle Knöpfe und fuhr wieder nach oben. Als sich die Türen im Erdgeschoss öffneten, sah sie Dutzende der für Schönheitswettbewerbe typischen Mutter-Tochter-Moleküle zur Eingangstür hinausströmen. Marilyn sprach gerade mit dem Portier. Sie schaute zu Susan hinüber, die aus dem Aufzug stieg, und sagte so kühl es ging: »Ach je, die Zweite.« Als Susan näher kam, fügte sie hinzu: »Ich habe zwar eine Tochter, aber das kannst unmöglich du sein, denn sie ist ein Siegertyp, und auf deiner Schärpe steht ZWEITER PLATZ, was bedeutet, dass du verloren hast.« Susan brach in Tränen aus.
    »Ach, sei still«, sagte Marilyn und gab ihrer Tochter ein

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