Miss Wyoming
Leben versäumt hatte. Angenommen, er würde wieder gesund, wie sollte er mit all den anderen Kindern gleichziehen, die da draußen ein ganz normales Leben geführt hatten - mit Ballspielen, Stöckchen werfen, Klauen? Johns Kenntnisse davon, wie man sich als normales Kind verhielt, waren lückenhaft. Und er machte sich Sorgen um Doris, die, obwohl sie immer wieder nah dran war, nach wie vor »keinen Mann abkriegte«. Würde sie jemals glücklich werden? Was konnte er tun, um Liebe in ihr Leben zu bringen? Das Fernsehen hatte ihn gelehrt, dass Liebe so ziemlich alle Leiden heilen konnte.
Doris machte gute Miene zum bösen Spiel. John war die Konstante in ihrem Leben, das Einzige, was ihre Familie ihr weder wegnehmen noch vermiesen konnte. Je mehr Zeit John sich zu Hause vor dem Fernseher aufhielt, sagte sie sich, desto besser, denn dort konnten ihm weder Rowdys noch Stromschienen oder fremde Männer in Regenmänteln etwas anhaben. Das Jahr, das er im Bett verbrachte, war zweifellos das längste seines Lebens. Als er älter wurde und Menschen kennen lernte, die während ihres kurzen Aufenthalts auf der Erde große Dinge vollbracht hatten, stellte er jedes Mal fest, dass sie in ihrer Kindheit einmal dem Tode nahe oder in irgendeiner Weise in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt gewesen waren. Diese Erfahrung hatte sich ihnen so tief eingebrannt, dass sie von da an mit vollem Einsatz spielten und ohne Rücksicht auf Verluste, in dem sicheren Wissen, dass es die allergrößte Sünde ist, sein Leben zu vergeuden, alles auf eine Karte setzten. Johns Krankheit hatte ihn gelehrt, Extreme zu schätzen. Als John nach jenem Jahr auf dem Wege der Besserung war, versuchte Onkel Raitt den amerikanischen Silbermarkt aufzukaufen, trieb die Familie damit in den Bankrott und löste einen Skandal aus, der sich über sechsundvierzig Bundesstaaten, den Großteil Europas, Teile Asiens und auf irgendeine komplizierte, beispiellose Weise sogar bis zur Antarktis erstreckte. Von einem Tag zum anderen waren Doris und John obdachlos. Eine Woche später erhängte sich Raitt in Delaware an einem Kronleuchter. Doris verspürte vor allem Erleichterung - nun musste sie nicht länger nach der Pfeife der Familie tanzen. Wenige Stunden bevor das Telefon abgestellt wurde, führte Doris noch ein paar Gespräche. Von dem gehorteten Geld kaufte sie zwei Amtrak-Tickets nach Los Angeles. Ein Wagen holte sie am Bahnhof ab und fuhr sie nach Beverly Hills, wo sie im Gästehaus von Ivans Vater Angus McClintock untergebracht wurden, einem Filmproduzenten, der Doris einmal fast geheiratet hätte, dann aber doch noch einen Rückzieher gemacht hatte. Aber auch ohne Ehering blieben sie einander all die Jahre in Freundschaft und Liebe verbunden, und so fanden Mutter und Sohn dort ein Asyl, weit entfernt von allem, was irgend etwas mit Delaware und heimatlos gewordenen, zornigen Familien zu tun hatte, die vom Himmel fielen wie ein Schwärm brennender Vögel.
Angus führte sie durch sein im spanischen Missionsstil gebautes Gästehaus, dessen fünf Zimmer ihnen Zuflucht bieten sollten, und als er Doris die Schlüssel überreichte, passierte etwas Merkwürdiges. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und die Sonne stand tief über dem Berg. Johns Haut verfärbte sich zu einem Krügerrand-Gold, das in Manhattan nicht zu haben ist, und dieser Anblick - ihr Sohn als goldener junger Prinz -überwältigte Doris. Ohne nachzudenken sagte sie: »Weißt du, John, ich glaube, du wirst jetzt nicht mehr krank sein. Es ist vorbei.«
»Meinst du?«
»Und ob. Du bist im goldenen Land.«
»Aber es könnte jeden Moment wiederkommen.«
»Nein. Das kommt nicht wieder.«
Doris sah erst John und dann Angus an und schickte ein Stoßgebet zu Himmel, das in etwa lautete: Lieber Gott, bitte mach, dass ich hier keinen Unsinn erzähle.
Sie bezogen ihr neues Zuhause.
Kapitel Neun
Als Susan ihr vorübergehendes Versteck im Haus der Galvins hinter sich ließ - ausstaffiert mit der Perücke und dem Sportoutfit von Karen Galvin -, besaß sie weder Kreditkarten noch Bargeld, einen Führerschein oder sonst irgendwelche Schlüssel zum nationalen Wirtschaftskreislauf. Sie betastete ihr trockenes, ungeschminktes Gesicht, das Gesicht, über dessen Farblosigkeit ihre Mutter immer geschimpft hatte (»Susan, ohne Make-up sieht dein Gesicht aus wie ein leeres Blatt Schreibmaschinenpapier. Nächste Woche lassen wir dir endlich einen Lidstrich tätowieren, meine Süße, keine Widerrede«).
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