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Miss Wyoming

Miss Wyoming

Titel: Miss Wyoming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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kennenlernte, überschlug er viele Seiten seiner Familiengeschichte. Er gehörte dem Lodge-Clan aus Delaware an. Ursprünglich hatte der Familienbetrieb Pestizide hergestellt, später alle Arten von landwirtschaftlichen Chemikalien, Kunststoffen und Pharmazeutika, und schließlich entwickelte er sich zu einem Monster, das von Mausefallen über Orangensaft bis zu Atomwaffenteilen einfach alles und jedes ausspie. Die Firma war größtenteils in Privatbesitz und wurde von Doris' Onkel Raitt geleitet, der von dem Familienlandsitz in Delaware aus regierte.
    Die Familie war zu dem Schluss gekommen, wenn auch nicht in exakt diesem Wortlaut, dass Doris ein unzuverlässiger finanzieller Klotz am Bein war, der mutwillig die ungeschriebenen Gesetze des Clans gebrochen hatte. Bei den alljährlichen Familienfesten wurde sie zähneknirschend toleriert, und sie kam oft allein, denn der kleine John war ständig krank. Er war mehr zu Hause als in der Schule und lag häufig mit Mittelohroder Nebenhöhlenentzündung und anderen bakteriellen Störfällen im Krankenhaus. Doris bewältigte das alles mit bewundernswerter Ruhe.
    »Komm schon, John, ich muss dich zum Onkel Doktor bringen.«
    »Kann ich nicht erst zu Ende frühstücken?«
    »Was ist das für ein orangefarbenes Zeug, das du da trinkst?«
    Sie nahm die Flasche Getränkepulver in die Hand, die sie in der vorangegangenen Woche auf Johns Bitten gekauft hatte,
    und las die Aufschrift. »›Tang ‹ - ist ja toll. Das probier ich heute Abend mal mit Bombay-Gin.«
    »Es ist für Astronauten.«
    »Wirklich? Dann muss ich sofort was haben, denn heute nachmittag treffe ich Raitt im St. Moritz, und ich werde geradezu überirdische Kräfte brauchen, um ihn so lange von den Verlockungen der Sixth Avenue abzulenken, dass ich mit ihm besprechen kann, ob er meinen Unterhalt nicht wenigstens ein kleines bisschen erhöhen will.« Sie nahm einen Schluck. »Klasse! Jetzt aber los.«
    Der kleine John hatte eine lebhafte Fantasie, seinen Wissensdurst jedoch konnte er aufgrund seiner Krankheiten meist nur innerhalb der Wohnungsgrenzen befriedigen. Sobald Doris aus dem Haus war, pflegte John sich in ihr Zimmer zu schleichen und in ihrem Schatzkästlein zu stöbern. Es enthielt den Panzer einer Babyschildkröte, die sie 1961 in Kyoto mit Piers zum Frühstück gegessen hatte (»Ich konnte spüren, wie er sich an meinem Kehlkopf vorbeiwand, der kleine Teufel«), Vorher-und Nachher-Fotos von einem schönheitschirurgischen Eingriff, bei dem ihre Reiterhosen entfernt worden waren (»Reiterhosen sind der Fluch der Familie Lodge, Johnny. Sei froh, dass du ein Junge bist!«), die handgeschriebene Menüfolge ihres Hochzeitsessens, zubereitet von einem andalusischen Koch, den ihr Gala Dali empfohlen hatte - ungeborenes Lamm mit Minzsoße (»Lammbryos, Schatz - kein böses Wort darüber, solange du es nicht probiert hast, und guck mich nicht so entsetzt an«). In dem Kasten fanden sich einer von Johns Babyschuhen (mit Gold, nicht etwa Bronze überzogen), ein paar Muscheln und ein Haufen Auszeichnungen, die seine Mutter als Kind beim Springreiten gewonnen hatte, außerdem ein Foto von Doris beim Wasserskilaufen mit Christina Ford, eins von Piers auf seiner geliebten Chesapeake-Stute Honeymoon sowie ein verblichenes, ehrfurchtsvoll gerahmtes Schwarzweißfoto, das irgendwie nicht zu den anderen Fotos passte. Es war anscheinend auf einem Gestüt aufgenommen -Piers unterhielt sich im Hintergrund mit jemandem - und zeigte Doris zusammen mit Marie-Helene de Rothschild. Marie-Helene gab Doris gerade Feuer, und auf Doris' Gesicht lag ein hämisches Grinsen.
    John erschien es nicht unnormal, dass seine Mutter ihre Zeit weder dazu nutzte, sich irgendwelche Fähigkeiten anzueignen, die sie fürs Berufsleben qualifizieren würden, noch dazu, sich intellektuell weiterzubilden. Doris jagte lieber reiche Männer, denn dazu war sie erzogen worden. Sie tat es, ohne wählerisch zu sein, mit dem arglosen Instinkt von Seeschwälben, die jedes Jahr von Kontinent zu Kontinent ziehen. John fand das faszinierend.
    »Mom, warum fliegst du überall mit dem Flugzeug hin?« 
    »Was meinst du, Schatz?«
    »Heute zum Beispiel. Du hättest problemlos mit dem Auto am Hudson hochfahren können, aber du bist geflogen.« Doris flog, wann immer es ging - sogar zu so nahe gelegenen Zielen wie dem Hudson Valley oder den Hamptons. »Schatz, wenn es etwas gibt, was ein Mann einer Frau nie eingestehen würde, dann ist es, dass er nicht in der Lage ist,

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