Miss Wyoming
dass ich 1 selbst nicht genau weiß, warum ich hier bin.«
»Meine Güte, ist das verrückt!« Er seufzte. »Ist dir was passiert? Bei dem Absturz? Keine Knochenbrüche? Keine Prellungen?«
»Mir geht's gut.«
»Erzählst du mir, was geschehen ist?«
»Natürlich. Aber nicht jetzt. Später.«
»Hunger?«
»Durst.«
»Komm mit. Ich hol dir ein Glas Wasser.« Susan strich ihre Klamotten glatt und betrachtete Eugenes Skulpturen. »Das ist ja alles aus Müll. Und dabei ist es so sauber. Wie machen Sie das?«
»Das ist Kunst. Das ist es, was ich den lieben langen Tag lang mache. Komm. Zur Küche geht's hier lang. Wie bist du von Ohio hergekommen?«
Das Haus war warm und trocken. »In diesem Land ist es ziemlich leicht, überall hinzugelangen, wo man hin will. Man muss nur eine Raststätte und irgendeinen mit Amphetaminen zugedröhnten Fernfahrer finden, einsteigen, eine Weile mitfahren und schließlich anfangen, sich über religiöse Themen zu ereifern - dann schmeißt er einen am nächsten Rastplatz raus, ohne dass man die Beine breit machen muss.«
»Ich weiß noch, wie ich dich damals auf der Bühne gesehen hab.«
»Wirklich?« Ein freudiger Schauer durchlief sie.
»Aber ja. Du hättest an jenem Abend auch ohne das kleine Erpressungsmanöver deiner Mutter gewonnen.«
Susan hatte keine Lust, über Marilyn zu reden. »Ich hab Durst, Eugene.«
Eugene gab ihr Wasser. Die Deckenlampen in der Küche trugen Schirme aus Milchkartons mit vermissten Kindern darauf, durch die ein gelbes Licht auf die Spüle fiel. Sie sah sich auf einem das Verfallsdatum an: »4. April 1991. Haben Sie damals angefangen, sich in Picasso zu verwandeln?«
»Sonnenschein, du hast wirklich einen Knall. Und deine Stimme. Wie du dich gibst. Du weißt es vermutlich gar nicht, aber du bist zu deiner Mutter geworden. Ich bin ihr nur einmal für ungefähr fünf Minuten begegnet, aber, Baby - du bist sie.« Susan schloss die Augen. Ein Hauch des Wiedererkennens streifte sie. »O Gott-wissen Sie was, Eugene? Sie haben Recht. Im Moment habe ich tatsächlich das Gefühl, dass ich mich bewege wie sie. Komisch - das ist mir noch nie passiert. Es bedurfte eines Flugzeugabsturzes, um die Marilyn, die in mir steckt, zum Vorschein zu bringen. Sie brauchte dafür nur fünfzehn Jahre als jüngste Tochter in einer Waldhütte voller Alkoholiker.« Sie stellte ihr Glas ab. »Also, wo soll ich schlafen?« Draußen hörten sie einen Müllwagen piepsen und tuckern. Eugene war neugierig, aber erschöpft. Langsam bewegten sie sich zurück ins Esszimmer. »Mein Hirn fühlt sich an wie durch den Wolf gedreht. Bist du sicher, dass dir nichts fehlt?«
»Ja.«
Eugene schlug einen förmlicheren Ton an. »Wie ist es dir gelungen, diesen Absturz zu überleben?«
Susan nippte an ihrem Glas. Langsam wurde sie ruhiger. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, auf der Flucht zu sein. »Wissen Sie, darüber habe ich die ganze letzte Woche nachgedacht. Ich habe das Ticket 58-A gezogen und gewonnen. Ich glaube, mehr steckt gar nicht dahinter. So ist es eben. Ich wünschte, ich könnte das Gegenteil behaupten, Eugene.«
»Aber wo warst du die ganze letzte Woche?« Susan gähnte und lächelte. »Das hat Zeit bis morgen. Ich bin seit sechsunddreißig Stunden auf den Beinen.« Eugene war zu müde, um weiterzubohren. »Ich habe noch ein möbliertes Gästezimmer. Vermutlich ein bisschen staubig, aber es müsste reichen.« Eugene führte sie hin. Innerlich strahlte Susan vor Glück: Eugene war allein stehend, Rentner und interessierte sich genau wie sie nicht besonders für die Außenwelt. Als sie im Zimmer waren, legte sie ihre Pilotenbrille auf den Nachttisch und setzte sich aufs Bett. »Wissen Sie, wenn Mom nicht diese Nummer mit Ihnen abgezogen hätte, hätte ich niemals das Foto von Ihnen geklaut und mich nicht in Sie verliebt.«
»Verliebt!« Eugene schien amüsiert, doch dann gähnte er. Er sagte: »Ich rufe morgen nachmittag beim Supermarkt an und gebe meine Bestellung auf. Überleg dir, was du nächste Woche essen willst.«
»Warum gehen Sie nicht einfach einkaufen?«
»Ich gehe nicht gern aus dem Haus.«
So etwas Erfreuliches hatte Susan schon seit Jahren nicht mehr gehört. Sie konnte es kaum fassen - es war wie Heiligabend. »Gute Nacht, Eugene. Danke.«
»Nacht, Sonnenschein.«
Eugene seufzte und ging den Flur hinunter. Er hieb geräuschvoll mit der Faust auf einen Totempfahl. »Und die Siegerin ist ...«, sagte er, »Miss Wyoming. Wirklich
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