Missbraucht
tat. Hatte er eben nicht auf die Anrufe von Mertes reagiert, so konnte er es jetzt nicht abwarten, dessen Stimme zu hören. Der Polizeidirektor meldete sich mit einem Fluch.
"Paul, Paul ist ja gut!, sagte Richard aus Rücksicht leise, aber doch sehr bestimmend ins Telefon und unterbrach das Poltern seines Chefs. Paul Mertes bemerkte sofort an Richards entschiedener Stimme, wie ernst die Lage war.
"Ich brauche hier dringend einen Arzt, Sandra hat es schlimm erwischt! Paul, bitte!"
"Wo bist du?", fragte Mertes.
"In der Halle! Beeil dich, sie verliert Blut. Viel Blut." Richard beendete das Gespräch, um sich wieder Sandra zuwenden zu können.
Paul Mertes war ein Profi, aber diese Situation hatte er unterschätzt. Er brauchte weiteres Rettungspersonal und telefonierte wie wild, damit die entsprechenden Maßnahmen in die Wege geleitet wurden. Dann nahm er Verbindung zu Stumpf auf, um auf diesem Weg den Notarzt über Sandra zu instruieren. Nebenher gab er ständig Kommandos an seine Nebenleute. Den Oberstaatsanwalt, der sich als der große Krisenmanager aufspielte, nahm er überhaupt nicht mehr zur Kenntnis. Die Szenen, die sich vor und in dem Gebäude abspielten, erinnerten an die Tradition der großen amerikanischen Thriller, nur hier war die Realität, die so noch niemand von ihnen erlebt hatte.
Bei jedem Atmen von Sandra hatte Richard das Gefühl, dass sie einen Schwall Blut mehr verlor und von oben herab sah er in ihr Gesicht, das immer leerer schien. Richard war verzweifelt und fast ohnmächtig vor Wut und Hilflosigkeit. Seine Partnerin drehte leicht den Kopf, so als wollte sie versuchen, ihn anzusehen. Es strengte sie an, doch sie ließ nicht nach. Das Bluten schien einfach nicht aufhören zu wollen. Sandra schloss die Augen ganz und Richard befürchtete das schlimmste.
" NICO ... LET ...", weiter kam sie nicht. Sie hatte all ihre Kraft aufgewendet, um diese Silben auszupressen. Richard schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an.
"Was Nico? Nicoletta! War es Nicoletta?", obwohl er es sich verkneifen wollte, platzte der Name und die Frage aus ihm heraus. Seine Stimme hörte sich für Sandra an, als käme sie aus dem Off, von ganz weit weg. Sandra nickte leicht mit dem Kopf und der Kommissar glaubte, ihre Erleichterung zu spüren. Er hielt sie einfach in seinen Armen und versuchte vergeblich seine Tränen zu unterdrücken und sich gedanklich auf Nicoletta zu konzentrieren.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, als endlich der Notarzt, der gerade noch im Keller die Erstversorgung bei Friedhelm Heb vorgenommen hatte, keuchend die Treppe hochgelaufen kam. Der Mediziner erkannte sofort den Ernst der Lage.
"Lassen sie einen weiteren Rettungshubschrauber kommen, schnell", wies der Arzt den Kommissar forsch an, während er sich daran machte, Sandra medizinisch zu versorgen. Er schnaubte wie eine Dampflok. Richard war nah am Durchdrehen. Ein Graben schien sich aufgetan zu haben. Auf der einen Seite wollte er solange wie möglich bei seiner Partnerin bleiben und andererseits wollte und musste er Nicoletta verhaften. Nur sie konnte jetzt noch Auskunft über den Verbleib des Jungen geben. Mathae war bei den Geschehnissen der letzten halben Stunde ganz untergegangen. Wer wusste, ob er überhaupt noch lebte?
Der Arzt tat, was er konnte und nach anfänglichem leichten Kopfschütteln, das Richard das Schlimmste befürchten ließ, nickte er dem Kommissar schließlich zu.
"Sie hat sehr viel Blut verloren, aber sie hat eine gute Chance."
"Sie meinen, sie schafft es?", fragte Richard mit zittriger Stimme.
"Ich glaube schon, sie hat eine gute Konstitution", erwiderte der Arzt. "Aber es muss schnell gehen!"
Kommissar Mees verstand den Wink und umgehend rief er wieder bei Mertes an, der sich inzwischen jeder Menge Fragen des Oberstaatsanwaltes ausgesetzt sah. Er forderte energisch einen weiteren Hubschrauber an. Dabei zog Richard sich das, mit Sandras Blut befleckte Hemd wieder an, nickte dem Doktor zu und machte sich im Laufschritt auf den Weg. Jetzt galt es, die offene Rechnung persönlich von Nicoletta einzufordern. Im Laufschritt klärte er den Polizeidirektor über die neuste Entwicklung auf, der entsetzt und ungläubig zuhörte. Richard schrie förmlich ins Telefon: “Hör zu Paul, es ist die kleine Rumänin, diese Nicoletta! Sie wird sich wahrscheinlich irgendwo hier auf dem Gelände oder im Gebäude verstecken. Sucht alles ab! Lass das ganze Heim, am besten das ganze Kaff hier großräumig absperren. Durchsucht
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