Missbraucht
abgebrühtesten Profis laufen Gefahr unter Druck Risiken zu unterschätzen, und wenn sich zum Druck noch die Gier hinzugesellt, können diese Fehler entscheidend sein. Genauso erging es Nicoletta. Für einen Moment zweifelte sie, ob sie noch einmal in ihre Wohnung zurück sollte. Doch der Gedanke an das Geld löschte ihre Bedenken aus. Rein in die Wohnung, das Geld schnappen und weg, weit weg! Außerdem brauchte sie Papiere. Die Rumänin wusste, dass es jetzt auf jede Sekunde ankam und sie wusste, dass sie sich absetzen und irgendwo, mit einer neuen Identität, untertauchen, musste. Das Geld und ein anderer Pass würden ihr das Vorhaben erheblich erleichtern. Sie brauchte vielleicht zehn Minuten und ein bisschen Glück. Darauf setzte sie. Nicoletta hatte inzwischen die Koblenzerstraße erreicht.
Der junge Mann, der lässig an seinem Auto lehnte, wippte locker mit dem Fuß und war mit der Musik aus seinem Discman beschäftigt, die er über die aufgesetzten Ohrhörer hörte. Die Sonne brannte unerbittlich auf den großen Parkplatz, der nicht die Spur von Schatten bot. Nicoletta brauchte ein Auto und hatte keine Zeit für Erklärungen. Zielstrebig ging sie mit offenem Lächeln auf den Mann zu. Die Reflexion der Sonnenstrahlen auf den Autodächern blendeten sie ganz leicht. Sie schaute sich um. Niemand anderes, als ihr Gegenüber war zu sehen.
"Hallo, ist das dein Wagen?", fragte sie übertrieben freundlich.
Etwas überrascht antwortete der Unbekannte: "Ja, warum?“ Dabei grinste er die Frau fast unverschämt an. Das Messer, das in diesem Moment schon zu ihm unterwegs war, sah er nicht. Nicoletta rammte es ihm mit aller Kraft in den Bauch und stieß zweimal mit ganz kurzen Bewegungen nach. Das Grinsen klebte noch auf dem Gesicht des Mannes, als er wortlos vor ihr zusammenbrach.
Sie öffnete die Tür und sah, dass der Schlüssel steckte. Sie machte einen Schritt über den vor ihr liegenden Körper, setzte sich hinters Steuer und schlug den Weg zu ihrer Wohnung ein. Es war kurz nach halb sieben.
*
29.06.1994
"Nach dieser Aktion ist er fällig", der Oberstaatsanwalt hatte sich immer noch nicht beruhigt und bereitete Polizeidirektor Mertes darauf vor, dass sein Kommissar Ungemach erwarten würde. Mertes interpretierte es sogar als großes Ungemach. Aber er stand auf Richards Seite. Der erste der angeforderten Rettungshubschrauber flog in geringer Höhe über das Gebäude hinweg, um auf dem hinteren, großzügig angelegten Rasen zur Landung anzusetzen. Die Äste der auf der Grundstücksgrenze stehenden Fichten und Kiefern wirbelten wie unter dem Joch eines Orkans. Mertes wurde ständig von einem seiner Männer über die Durchsuchung des Hauses per Funk unterrichtet und ein weiterer Beamter hielt ihn über Mobiltelefon, hinsichtlich Sandras Befinden, auf dem Laufenden. Heb, wurde als Erster auf dem Luftweg ins Bundeswehrkrankenhaus Koblenz transportiert. Sein Zustand war mehr als kritisch, wohingegen sich die Meldungen über Sandras Befinden, immer mehr bei ernst, aber nicht lebensbedrohend, einpendelten. Das beruhigte Mertes, dem nicht nur als Vorgesetztem sehr viel an seiner Kollegin lag. Sandra Götze war eine der "guten Seelen", die jedes Polizeipräsidium braucht.
Über den Verbleib von Mathae konnte jedoch niemand eine positive Nachricht vermelden. Jegliche Spur fehlte von ihm und bis zu diesem Zeitpunkt war niemand in der Lage, den vorgefundenen Sachverhalten eine Erklärung zu geben. Die Einzige, die wahrscheinlich Auskunft geben konnte, war auf der Flucht. Mertes verdammte die Situation, war sich aber sicher, dass Kommissar Mees mit der Festnahme der Rumänin Licht ins Dunkle bringen würde.
"Wo bleiben die Hunde", brüllte er in einen der Polizeibusse, der so etwas wie die Kommandozentrale des Einsatzes darstellte.
"Sind unterwegs, müssten eigentlich bald eintreffen", bekam er als Antwort.
"Brauchen wir nicht irgendwas, womit wir die Hunde auf die Spur des Jungen bringen können?", fragte einer der Beamten aus dem Bus.
"Bingo! Gut der Mann!", sagte Direktor Mertes, nickte dem Polizisten zu und funkte sofort entsprechende Anweisungen zu den Suchmannschaften.
Oberstaatsanwalt Koepp und Staatsanwältin Heuss hatten sich inzwischen aus taktischen Erwägungen heraus in der Nähe des Fernsehteams positioniert und beobachteten das hektische Treiben. Immer zu einem Statement bereit.
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29.06.1994
Während der Fahrt hielt Nicoletta ständig Ausschau nach eventuellen Verfolgern. Sie bemerkte nichts. Das gab
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