Missbraucht
Oberstaatsanwalt samt Begleitung, fast zeitgleich hinter einem Notarzt- und Rettungswagen ein. Eine große Anzahl von Polizisten und die angeforderten Rettungssanitäter stürmten in das Gebäude, während ein weiterer Teil der Beamten sowohl links als auch rechts um das Haus ausschwärmte. In etwas respektablem Abstand parkte der Dienstwagen der Herren Jung und Göttert. Mit weit weniger Respekt fuhr ein schwarzer Transporter vor, dem unvermittelt drei junge Reporter mit einer Handkamera und allerlei anderem Equipment entstiegen. Es war mächtig was los. Sofort übernahm der Oberstaatsanwalt das Kommando und ließ sich von Polizeiobermeister Wagner einen präzisen Bericht zur Lage geben. Koepp gab im Stile eines Feldherrn Anweisungen, während er es dabei fertigbrachte, zu telefonieren. Er ahnte nicht, dass die Adressaten seines Anrufs sich in Sichtweite befanden. Die beiden Politiker hörten seiner Berichterstattung aufmerksam zu und nickten beipflichtend, während sie dem Geschehen aus dem Wagen aus zu sahen. Polizeidirektor Mertes bemühte sich sofort darum, Kontakt mit Kommissar Mees herzustellen. Vergeblich. Richard setzte seine Prioritäten anders.
*
29.06.1994
Sandras Blick ließ von der Frau ab und fiel auf ihre Tasche, in der das Rufzeichen ertönte. Sie wollte gerade ihr Telefon herausziehen, als sie den Stahl spürte. Nicoletta hatte ihr die Klinge des Messers bis zum Anschlag in den Bauch getrieben. Sandras Augen glichen Tischtennisbällen. Nicoletta ließ das Messer für einen Augenblick im Leib der Polizistin um es dann, mit einem noch härteren Ruck herauszuziehen. Sandra presste beide Hände auf ihren Bauch, aber sofort quoll das Blut durch ihre Finger. Es sah aus, als wolle, oder besser, als müsste Sandra Götze sich aufgeben. Fragend blieb ihr Blick mit weit aufgerissenen Augen auf Nicoletta gerichtet, die mit gleichgültiger, fast verächtlicher Miene Sandras Dienstwaffe aus deren Tasche nahm.
Inzwischen lief ein kleines Rinnsal Blut aus Sandras Mund, deren hübsches Gesicht mehr und mehr zu einer schrecklichen Maske zu werden schien. Undefinierbare Töne entsprangen ihren Lippen, wobei jedes Mal einige Blutbläschen zum Vorschein kamen, während sie wie in Zeitlupe zusammensackte. Nicoletta berührte das alles nicht, sie steckte die Waffe in ihre Handtasche und ging schnellen Schrittes durch die Tür ins Freie. Bis zur Hecke, die die Grundstücksgrenze bildete, blieb sie unbehelligt, obwohl in nur geringer Entfernung von ihr, fast eine gesamte Hundertschaft von Polizisten dabei war, mobilzumachen.
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29.06.1994
Es war 18 Uhr 10! Als Richard die ersten vier Stufen der Treppe genommen hatte, sah er sie. Sandra lag gekrümmt in einer Blutlache auf dem dunklen Steinboden und ihre blutverschmierten Hände hielten ihren Bauch. Das Erste, was ihm auffiel, waren ihre Augen, die ihn Hilfe suchend anstarrten und ihr verzerrtes Gesicht.
Richard war ein hart gesottener Polizist. Er hatte im Laufe seiner vielen Dienstjahre einige Dinge gesehen, die ihn an den Rand der Selbstbeherrschung geführt hatten, aber in diesem Moment konnte er nicht anders.
Ein langes, lautes "SAANDRAA!" schallte durch das Gebäude. Mit drei, vier großen Schritten nahm er die Stufen und fiel oben neben ihr auf die Knie. Dem Kommissar liefen Tränen über das Gesicht. Er nahm ihre Tasche und schob sie ihr unter den Kopf. Richard zog sein Hemd aus, ja er riss es sich fast vom Körper und legte es ganz vorsichtig unter Sandras blutige Hände, die sie auf das Loch in ihrem Bauch presste. Sein Gefühl sagte ihm, dass es schlimm um sie stand und es nahm ihm die Luft. Der Blutverlust erschien ihm riesig. Er musste schlucken und hatte einen riesigen Kloß im Hals. Ihm kam es vor, als würde sie ihn mit den Augen um Hilfe anflehen. Das tat ihm unendlich weh und er hätte aufgrund seiner Machtlosigkeit, am liebsten die ganze Welt niedergebrüllt. Er schämte sich ein Stück weit vor ihr. Immer tat er so cool und machte auf großen Beschützer und nun lag sie vor ihm in ihrem Blut und er war vollkommen damit überfordert, ihr zu helfen. Die Tränen nahmen kein Ende und er glaubte, sein Magen zöge sich auf Erbsengröße zusammen. Er sprach ihr schluchzend Mut zu und forderte sie immer wieder auf, die Augen offen zu lassen. Richard streichelte ihr durchs Haar und kramte mit zitternden Händen sein Funktelefon aus der Hosentasche, das gar nicht mehr aufhörte zu klingeln. Er glaubte fühlen zu können, dass ihr seine Berührung gut
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