Missbraucht
eines Jungen gefunden hatte. Es traf Mertes wie ein Keulenschlag, sein Magen zog sich zusammen und er hatte das Gefühl kotzen zu müssen. Trotzdem blieb er Profi und behielt den Überblick.
"Rakow, sie übernehmen hier mal! Wir brauchen den Notarzt auf dem Speicher, schnell!", wies er einen seiner Beamten an und machte sich auf ins Haus. Oberstaatsanwalt Koepp war zu beschäftigt mit der Eigendarstellung, als das er den eiligen Aufbruch von Mertes bemerkt hatte.
Auf dem Weg zum Speicher wählte Mertes Kommissar Mees an.
*
29.06.1994
Das Haus machte einen verwohnten Eindruck. Einige der Briefkästen standen offen und eine Flügeltür des großen Sicherungskastens, der in der Wand eingebaut war, lag verbeult am Boden. Bei aufmerksamer Betrachtung war ein erheblicher Renovierungsstau festzustellen. Für die Sauberkeit des Treppenhauses fühlte sich wohl niemand zuständig. Papierschnitzel, Zigarettenkippen, Drehverschlüsse und Kronenkorken waren auf einer durchweg dünnen Staubdecke zu sehen. Im Erdgeschoss war offensichtlich nur eine Wohnung. Mees klingelte zwei-, dreimal. Er drückte so fest auf den Klingelknopf, wie es ging, weil er irgendwie im Unterbewusstsein dem Trugschluss aufsaß, dadurch dem Klingeln mehr Bedeutung zu geben. Er wartete nicht ab, sondern lief die, mit grauem Naturstein belegten Treppenstufen hoch und sah sich dabei immer wieder um, ob jemand die Tür öffnete. Im ersten Stock das Gleiche. Hier waren es zwei Wohnungen, eine links und eine rechts. Richard klingelte im Wechsel. Das Bild erinnerte an das Aufwärmen eines Boxers. Fast tänzelnd sprang er von links nach rechts und betätigte die Klingelknöpfe. Dabei versuchte er immer, einen Blick auf die Wohnungstür im Erdgeschoss zu werfen. Eine der Türen öffnete sich. Richard sah in das Gesicht eines für die heiße Jahreszeit viel zu blassen Jünglings, der nur mit Shorts und Unterhemd im Türrahmen stand.
"Tschetschowa?", hauchte Richard fragend. Dem jungen Mann war der Schreck anzusehen. Mit dem Blick auf die Waffe des Kommissars fehlten ihm die Worte. Er schüttelte nur mit dem Kopf und deutete schulterzuckend nach oben. Richard klingelte schnell noch einmal an der gegenüberliegenden Tür. Nichts! Ein weiterer Blick ins Erdgeschoss. Immer noch nichts. Richard legte den linken Zeigefinger auf die Lippen und deutete mit der rechten Hand, in der die Waffe lag, dem Mann unmissverständlich an, wieder in seine Wohnung zurückzukehren. Einen größeren Gefallen hätte er ihm allen Anschein nach nicht tun können, zentnerschwere Steine fielen von dem jungen Burschen ab.
Richard machte sich auf in den nächsten Stock. Das gleiche Prozedere. Er klingelte
abwechselnd an der rechten und an der linken Tür. Dreimal sprang er hin und her und schellte. Eine sommerlich leicht bekleidete Dame älteren Baujahrs öffnete. Die andere Wohnungstür blieb verschlossen. Sie hatte ein Handtuch um ihren Hals gehängt und das speckige Glänzen auf ihrem Gesicht zeugte von ihrem Kampf gegen die Temperaturen. „Ich suche Nicoletta Tschetschowa." Die Frau blieb beim Anblick des Kommissars, der offen seine Waffe in der Hand hielt, erstaunlich gelassen, fast schon abgebrüht. "Die kleine Schwarzhaarige?", fragte sie. Richard nickte mit dem Kopf. Er hatte an ihrem Tonfall sofort gemerkt, dass sie ihm Auskunft geben konnte. Mit dem Finger wies sie nach oben. "Ein Stock höher, auf der linken Seite."
Kommissar Mees nickte ihr kurz zu. Auf der nächsten Etage also. Mit dem Rücken an der Wand entlang, den Blick nun immer nach oben gerichtet und die Pistole im Anschlag nahm Richard Stufe um Stufe. Sein Gefühl sagte ihm, dass er Nicoletta in den nächsten Sekunden gegenüberstehen würde. Schon als der Etagenboden auf Augenhöhe war, sah er, dass eine der Türen einen Spalt weit offen stand. Er fixierte mit beiden Händen die Waffe und ging lautlos die Treppenstufen hoch. Auf der Etage angekommen, schaute er sich einmal um, dann nahm er Kurs auf die Tür. Wieder kein Namensschild, aber er hatte die Eingebung, dass er definitiv richtig war. Sie stand vielleicht fünf Zentimeter offen. Richard drückte sie vorsichtig mit dem Fuß auf und schlich langsam in die Wohnung. Der Flur war circa fünf Meter lang und etwas über einen Meter breit, ansonsten war er kahl und vermittelte einen unbewohnten Eindruck. Rechts waren zwei Türen, eine davon war geschlossen, die andere war der Eingang zu einer kleinen, auf den ersten Blick spärlichen und unaufgeräumten Küche.
Weitere Kostenlose Bücher