Missbraucht
setzte eine beispiellose Unterstützung s- und Spendenaktion ein. Große und kleine internationale Hilfsorganisationen schickten Mitarbeiter, Hunderttausende Menschen spendeten in ihrer Wut und Empörung Kleidung, Medikamente und Geld.
Rumänien entwickelte sich über Nacht in ein "Exportland" für Kinder. Viele von ihnen wurden mithilfe seriöser Organisationen von Paaren aus dem Westen adoptiert, viele wurden jedoch durch zwielichtige Mittelsmänner auf dem Adoptivmarkt angeboten wie Sauerbier. Es war nur eine Frage des Geldes. Schneller und unbürokratischer wurden Tausende von Kindern, unter dem Deckmäntelchen der Hilfsbereitschaft, nie ins Ausland "verschoben". Aber als Fazit bleibt festzuhalten, das all diesen Kindern zuerst einmal geholfen war. Sie entkamen dadurch ihren unmenschlichen Lebensbedingungen.
Am 23.05.1990 wurden Frau Anneliese Rufenthal und Herr Stefan Ludwig von "Zukunft für Kinder in Deutschland" zusammen mit ihrem rumänischen Fahrer im Büro von Frau Simonescu vorstellig. Sie wollten drei Kinder abholen, die dafür bestimmt waren, in Deutschland bei Pflegeeltern ein neues zu Hause zu finden. Für Frau Simonescu war es ein großer Erfolg. Sie hatte gekämpft wie eine Löwin. Frau Simonescu hatte alles in ihrer Macht stehende getan, damit Mathae zu den Ausgewählten gehörte, die die Chance erhielten, ein unbeschwerteres Leben, fernab von Rumänien zu führen.
Sie war der Meinung, dass der Junge trotz seiner introvertierten Art, die wenigsten Schwierigkeiten hätte, sich in einer neuen Umgebung einzufinden. Außerdem fand sie, dass Mathae es einfach verdient hatte. Aber es gab noch das Problem Nadia. Helena Simonescu wurde nach reiflicher Überlegung klar, dass all ihre Bemühungen und all ihre Voraussagungen für Mathaes Entwicklung hinfällig waren, sollten der Junge und seine Schwerster auseinandergerissen werden. Die Chance, dass Mathae die Trennung überwinden würde, war vielleicht gegeben, gleichwohl bedeutete es, dass Nadia dadurch für immer verloren ging. Das war so sicher, wie das Amen in der Kirche. Die einzige Alternative war, eine Familie zu finden, die beide Kinder aufnehmen würde. Zusammen mit der Organisation suchte sie nach Möglichkeiten und wurde in Nauort, einem kleinen Ort am Rande des Westerwaldes fündig. Ein Ehepaar mittleren Alters, sie Lehrerin und er in der Werbebranche tätig, äußerte den Wunsch, ein Geschwisterpaar zu sich zu nehmen.
Der Abschied fiel still aus. Erst als der Bus mit den Kindern durch das verrostete, schmiedeeiserne Tor Richtung Deutschland verschwand und Helena Simonescu alleine am Fenster ihres Büros stand, zeigte sie Emotionen und fing an, zu weinen. Sie war zufrieden und fühlte etwas wie Stolz, denn sie war sich sicher, den Kindern, vor allen Dingen ihrem Liebling Mathae, den Weg in eine lebenswerte Zukunft geebnet zu haben.
*
März 1991
Ursula und Martin Stolzenfels waren mehr und mehr überfordert. Ihre gesamte private Situation hatte sich dramatisch verändert und gipfelte darin, dass Ursula am 4. März versucht hatte, sich mit einem Cocktail aus Tabletten und Alkohol das Leben zu nehmen. Ihr vor knapp einem Jahr begonnener Traum, einer kompletten und perfekten Familie, war wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Martin Stolzenfels musste, aufgrund der veränderten Betätigungsfelder seiner Firma, die durch die Wiedervereinigung eine stattliche Anzahl neuer Kunden in den neuen Bundesländern gefunden hatte, einen Großteil seiner Zeit in Leipzig verbringen.
Trotz der Hilfe ihrer Schwiegermutter Irene kam Ursula Stolzenfels mit den neuen Gegebenheiten immer weniger zurecht. Die Kinder in ihrem Job nervten. Zu allem Überfluss musste sie sich, wenn sie von der Schule nach Hause kam, als Erstes die Klagen ihrer Schwiegermutter über Nadia und Mathae anhören, um dann verzweifelt am Ende des Tages festzustellen, dass Irene recht hatte. Niemand von ihnen kam an die beiden heran, es war unmöglich, überhaupt einen Zugang zu den Kindern zu finden. Alle Bemühungen waren vergebens und kosteten wahnsinnig viel Kraft. Still und in sich gekehrt, saßen die beiden in ihren schmuck hergerichteten Zimmern. Während Mathae, der inzwischen eingeschult war, versuchte in der ersten Klasse Anschluss zu finden, starrte Nadia meist gegen die mit viel Liebe rosa gestrichene Zimmerwand.
Die Kinder waren nicht fähig, die Liebe, die Ursula ihnen mit zunehmend großem Ehrgeiz und Fanatismus geben wollte, zu erwidern. Noch nicht einmal ein kleiner Teil
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