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Missgeburt

Missgeburt

Titel: Missgeburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William C. Gordon
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dafür auf später vertrösten. Der Gottesdienst fängt nämlich gleich an.«
    »Überhaupt kein Problem«, sagte Samuel. »Ich wollte Sie sowieso immer schon mal predigen hören.« Er und Vanessa tauschten einen Blick, aber keiner von beiden sagte etwas. Der o-beinige Zwerg watschelte auf die Bühne und verschwand hinter einem der Vorhänge an der Seite.
    Während Samuel und Vanessa mit dem Prediger sprachen, hatte sich Dominique in einen mit einem schwarzen Vorhang abgetrennten Bereich an der Seite des Saals zurückgezogen, in dem sie ihre Sprechstunde abhielt. Auf den fünf Stühlen, die davor
standen, saßen drei junge Männer, die alle noch unter zwanzig waren, sowie zwei Frauen Mitte vierzig.
    Nach einer Weile ging der Vorhang ein Stück auf, und Dominique winkte einem Mann, der als Nächster an der Reihe war.
    »Was treibt diese Frau eigentlich genau?«, fragte Samuel leise Vanessa.
    »Mein Vater meint, sie ist eine Hexe«, antwortete Vanessa. »Sie dreht diesen armen Schluckern fragwürdige Zaubertränke an und vollführt irgendwelchen Hokuspokus.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja, absolut. Viele Latinos glauben an diese Art von Zauber. Außerdem heißt es, dass sie Menschen verhexen kann.«
    »Willst du damit sagen, sie praktiziert schwarze Magie?«
    »So nennt man das meines Wissens.«
    »Ist das nicht verboten?«
    »Nur, wenn man sich dabei erwischen lässt.«
    »Warum zeigst du sie dann nicht an?«
    »Weil sofort jemand anders ihren Platz einnähme. Außerdem fügt sie niemandem ernsthaften Schaden zu. Und es ist sehr schwer, diese Menschen von ihrem tiefverwurzelten Aberglauben abzubringen.«
    »Was ist eigentlich mit ihrem Gesicht passiert?«, fragte Samuel.
    »Soviel ich weiß, rührt die Narbe von einer schweren Verbrennung her«, sagte Vanessa.
    Inzwischen gab es keine freien Plätze mehr in der »Kirche«, und der Geruch von gekochten Bohnen und frisch gebackenen Tortillas erfüllte den Raum. Samuel schüttelte den Kopf, als wollte er die vielen neuen Eindrücke, die von allen Seiten auf ihn einstürmten, von sich abhalten. Er versuchte, sich immer nur auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren. »Von diesem köstlichen Geruch läuft einem ja das Wasser im Mund zusammen.«
    »Genau das ist Teil ihrer Taktik«, sagte Vanessa. »Der Essensduft verleitet die Leute dazu, nach der Predigt noch so lange zu
bleiben, bis die Spenden eingesammelt werden. Erst danach bekommen sie etwas zu essen.«
    »Wo?«
    »Gleich hier. Siehst du die Tische an den Seitenwänden? Dort wird das Essen ausgegeben, sobald Schwartz mit seiner Predigt fertig ist.«
    »Ganz schön raffiniert. Das macht das Handikap wett, dass der komische Heilige ein Zwerg ist.«
    »Warte erst mal ab, bis du ihn predigen gehört hast«, sagte Vanessa. »Dann findest du ihn vielleicht gar nicht mehr so komisch. «
    Auf der Bühne hatten inzwischen sechs Musiker in Sombreros und typischer Mariachi-Tracht mexikanische Rancheras zu spielen begonnen. Die laute und fröhliche Musik versetzte die Gemeinde rasch in erwartungsvolle Stimmung.
    Samuel entging nicht, wie anders hier die Atmosphäre war als in dem Gottesdienst, den Vanessas Vater Alejandro Galo im vergangenen Jahr in der katholischen Kirche von Stockton gehalten hatte und bei dem Gospelmusik gespielt worden war. Als die Musiker zu spielen aufhörten, verlangten die Gläubigen unter lautem Klatschen, Pfeifen und Rufen eine Zugabe, aber sie verstummten schlagartig, als Dusty Schwartz hinter dem schwarzen Vorhang hervortrat.
    Der Zwerg trug einen Smoking unter seinem rot gefütterten Cape und einen Zylinder, und alle Scheinwerfer waren auf ihn gerichtet, als er unter dem lauten Beifall der Gemeinde ans Rednerpult schritt. Die Mädchen in den vordersten Reihen kreischten, als wäre er ein Filmstar. Er kletterte auf zwei Coca-Cola-Kisten, dann nahm er den Zylinder ab und winkte damit feierlich in alle Richtungen. Das Scheinwerferlicht brach sich im leuchtend roten Seidenfutter seines Capes, die Brillantine in seinem dunkel gelockten Haar glänzte, und seine blauen Augen leuchteten im Vollgefühl der Macht, die er auf seine Zuhörerschaft ausübte. Samuel musste zugeben, der Zwerg hatte tatsächlich Charisma.

    Sobald er mit seiner tiefen, melodischen Stimme zu sprechen begann, wurde es im Saal mucksmäuschenstill. Er begann zunächst leise und verhalten, setzte seine Pausen mit dem raffinierten Timing eines erfahrenen Bühnenschauspielers und hatte die Zuhörer mit seinen hypnotischen Blicken schon nach

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