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Missgeburt

Missgeburt

Titel: Missgeburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William C. Gordon
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sodass Samuel fürchtete, die Menge würde in kollektive Ekstase geraten.
    Und tatsächlich fiel wenige Augenblicke später nicht weit von ihm eine ältere Frau in Ohnmacht. Doch bevor er die Arme ausstrecken konnte, um sie aufzufangen, packte ihn Vanessa energisch am Ärmel und zischte ihm nachdrücklich zu: »Halt dich da raus!« In der Reihe vor ihnen torkelte ein Mann unter ekstatischem Geschrei in den Mittelgang hinaus und sank zuckend zu Boden. Wenig später folgte eine Frau seinem Beispiel, und binnen kürzester Zeit wälzten sich viele Menschen heftig um sich schlagend auf dem Boden. Der Reporter sank fassungslos auf seinen Stuhl zurück, doch Vanessa klopfte ihm mit einem wissenden Lächeln beruhigend auf die Schulter.
    Zum Trompetengeschmetter der Mariachis und den verzückten Salvador!-Salvador! -Rufen der jungen Mädchen wanderten inzwischen die Spendenkörbe in erstaunlichem Tempo die Stuhlreihen entlang, und angesichts der Tatsache, dass sie schon nach kürzester Zeit von Geldscheinen überquollen, stellte sich Samuel fast zwangsläufig die Frage, wie viel Geld Schwartz diesen bitterarmen Menschen allein an diesem Abend aus der Tasche gelockt hatte.
    Ein Fanfarensignal der Musiker beendete den Gottesdienst. Der Zwerg stieg von den Cola-Kisten herunter, setzte seinen Zylinder
auf und verschwand mit einem eleganten Schwung seines Capes hinter dem Vorhang. Darauf kamen die verzückten Gläubigen im Saal allmählich wieder zur Besinnung, die Musiker begannen, populäre Rancheras zu spielen, und wie auf ein Kommando machten alle Platz, damit für die kostenlose Speisung Tische und Stühle aufgebaut werden konnten.
    Doch nicht alle strömten zu den reich gedeckten Tischen. Samuel bemerkte, dass drei der Mädchen aus der vordersten Reihe auf das Podium kletterten und dem Zwerg hinter die Bühne folgten. Die fünf Stühle vor Dominiques Vorhang blieben weiterhin besetzt, und sobald der Nächste an der Reihe war, rückten die Wartenden nach, und ein neuer Patient nahm den freigewordenen Platz ein.
    Vanessa und Samuel standen etwas konsterniert in diesem Durcheinander und beobachteten, wie um sie herum Tische und Stühle aufgestellt wurden. »Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich nicht glauben, was hier gerade passiert ist«, bemerkte Samuel. »Wirklich unfassbar, wie es dieser kleine Kerl schafft, die Leute so in seinen Bann zu ziehen.«
    »Er hat eben Charisma. Selbst mein Vater könnte noch einiges von ihm lernen.«
    »Mich würde interessieren, woher dieses Gemälde stammt«, murmelte Samuel. »Es ist offensichtlich aus Europa und sehr alt. Irgendwie passt es nicht in diese Umgebung.«
    »Ich halte das für einen außerordentlich geschickten Schachzug des Predigers«, erklärte Vanessa. »Damit erweckt er den Eindruck, mit der katholischen Kirche verbunden zu sein, und zugleich stellt das Bild einen Bibelbezug her. Und beide Aspekte sind sehr wichtig für seine Predigten. Aber du kannst ihn ja selbst danach fragen.«
    Samuel nickte und zupfte Vanessa am Ärmel. »Wer ist der Typ mit diesen auffallend blonden Haaren in dem glänzenden blauen Anzug?«
    »Das ist Michael Harmony, ein Anwalt. Er ist hier, um seine Visitenkarten
an die Gläubigen zu verteilen und neue Mandanten für Schadenersatzprozesse zu gewinnen. Das hat er auch bei meinem Vater versucht, aber der hat ihm eine Abfuhr erteilt.«
    »Ist so etwas denn überhaupt erlaubt?«
    »Natürlich nicht! Aber ich nehme mal an, der Zwerg tut so, als bekäme er nichts davon mit, und streicht dafür eine ordentliche Provision ein.«
    Während sich die Gläubigen zur Musik der Mariachi über das Essen hermachten, kam der Prediger, inzwischen wieder in Jeans und Cowboystiefeln, hinter dem schwarzen Vorhang an der Seite der Bühne hervor. Er blickte sich vom Podium aus im Saal um, und als er Samuel in der Menge entdeckte, winkte er ihn zu sich.
    Samuel stieg auf das Podium und schüttelte dem Zwerg die Hand. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben, Reverend. Ihre Kirche wird in San Francisco immer populärer, und deshalb wollen unsere Leser mehr darüber erfahren. Wo können wir uns hier ungestört unterhalten?«
    »Kommen Sie nach hinten in meine Garderobe. Das ist der einzige Ort, an dem ich mich vor dem ganzen Trubel hier zurückziehen kann.«
    Samuel folgte Schwartz zu einer massiven Holztür mit drei Schlössern. Der Prediger holte einen Schlüsselbund aus seiner Tasche, schloss auf und winkte den Reporter nach drinnen.

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