Missgeburt
Seite seines Blocks auf. Der Kellner brachte das Wasser, und Ramiro nahm einen kräftigen Schluck. Dann fuhr er fort: »Ich würde sagen, sie verschwand ungefähr eine Woche nach Octavio.«
»Hat Ramiro mit dem Prediger oder mit Dominique über seinen Cousin gesprochen?«, fragte Samuel.
Der Junge wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und senkte den Blick auf den Tisch. »Ja, hat er. Aber beide haben behauptet, nichts darüber zu wissen. Darauf wurde ich wütend und beschuldigte Dominique, Sara ein Mittel gegeben zu haben, von dem sie krank geworden sei. Das stritt Dominique vehement ab. Außerdem behauptete sie, sie dürfe nicht über ihre Patienten sprechen, und leugnete sogar, dass Sara überhaupt bei ihr gewesen war. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte, weil ich Sara in der Kirche in ihr Behandlungszimmer hatte gehen sehen. Als ich daraufhin den Prediger zur Rede stellen wollte, hinderten mich die Bodyguards daran, und der Zwerg weigerte sich, mit mir zu sprechen. Daraufhin habe ich aufgegeben. Ich ging nicht mehr in die Kirche und beschloss, einfach zu warten und zu hoffen, dass Octavio wieder auftauchen würde.«
»Weißt du inzwischen, was Dominique Sara gegeben hat?«, fragte Samuel.
»Nein, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie davon krank wurde.«
»Das ist ja furchtbar. Und ihre Familie? Hast du dich mit ihren Eltern in Verbindung gesetzt?«
»Ja«, antwortete Ramiro. »Sie kommen aus Guyamas. Das ist nördlich von Mazatlán an der Küste. Ich dachte, sie wären vielleicht gemeinsam dorthin zurückgekehrt, aber ihre Familie hat sich bei Verwandten erkundigt, die nach wie vor dort leben, und auch sie haben nichts von Sara gehört.«
»Hast du oder jemand aus Saras Familie die beiden bei der Polizei vermisst gemeldet?«, fragte Samuel.
»Wie stellst du dir das vor? Sie sind illegal hier. Von denen geht keiner zur Polizei«, antwortete Vanessa heftig.
»Kann er mir sonst noch etwas erzählen, was er in Zusammenhang mit dem Verschwinden der beiden für wichtig hält?«
»Ich war mit Saras Familie in der Saint Dominic’s Church in der Bush Street«, erzählte Ramiro daraufhin. »Wir haben vor dem Bild des heiligen Judas gebetet.«
»Und was soll das bedeuten?«, fragte Samuel.
»Der heilige Judas ist der Schutzheilige der Hoffnungslosen«, erklärte ihm Vanessa. »Es gibt in ganz San Francisco nur in einer einzigen Kirche eine Figur von ihm. Alle Katholiken kennen sie. Wenn irgendwann überhaupt nichts mehr geht, wenden wir uns an ihn, damit er uns hilft, ein unüberwindliches Problem zu lösen. Wenn sie beim heiligen Judas Beistand gesucht haben, muss ihnen die Sache wirklich aussichtslos erschienen sein.«
»Würdest du dich denn an den heiligen Judas oder an Dominique wenden?«, fragte Samuel Vanessa.
Sie verdrehte als Antwort nur die Augen.
Samuel machte eine kurze Pause und bestellte eine neue Runde. Dann unterhielten sie sich weiter. Als sie fertig waren, hatte Samuel einiges in Erfahrung gebracht, was er an Bernardi weiterleiten
konnte. Allerdings handelte es sich dabei um einen solchen Wust von Fakten, dass er sie zunächst nicht in einen schlüssigen Zusammenhang bringen konnte. Deshalb beschloss er, vorher noch einmal in Ruhe über alles nachzudenken und sich mit verschiedenen Punkten eingehender zu befassen.
9 ÜBERRASCHENDE ENTWICKLUNGEN
D as Haus an der Ecke von Seventeenth und Folsom Street, in dem Dominique wohnte, hätte dringend einen neuen Anstrich vertragen können, und der Gehsteig davor war von Abfällen übersät. Als Samuel an der Haustür klingelte, war sein erster Eindruck, dass Dominique in einem heruntergekommenen Loch wohnte, doch er sollte seine Meinung rasch ändern, als der Summer die Tür öffnete und er die schwach beleuchtete Treppe hinaufstieg, die in krassem Gegensatz zu dem verfallenen Äußeren des Hauses stand. Noch größer wurde seine Überraschung, als ihn Dominique am Ende der Treppe in Empfang nahm. Sie trug eine elegante Seidenbluse und eine modische Hose und führte ihn in eine Art Salon, wo ihm als Erstes die beleuchteten Nischen mit den Schrumpfköpfen auffielen.
»Sie haben einen sehr ausgefallenen Geschmack«, bemerkte Samuel anerkennend.
»Ich sammle völkerkundliche Objekte aus aller Welt. Dahinter steht nicht zuletzt die Absicht, die Menschen dazu zu bringen, sich auch mit anderen Kulturen zu befassen.«
»Eine derart ausgesuchte Sammlung habe ich, ehrlich gestanden, noch nie gesehen.«
»Ich habe ja auch ein Leben
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