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Missgeburt

Missgeburt

Titel: Missgeburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William C. Gordon
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wiederhole noch mal schön für Mr. Hamilton, was du mir gestern erzählt hast«, forderte sie ihren Sohn auf, als die Kinder mit dem Essen fertig waren. Für den Fall, dass ein Kunde an den Schalter kam, hatte sie die Tür einen Spaltbreit offen gelassen.
    »Nach der Schule und am Wochenende helfen wir unseren Eltern immer im Laden«, begann Marco.
    »Und lernen viele Kunden kennen und reden mit ihnen«, plapperte Ina dazwischen.
    »Octavio und sein Cousin Ramiro waren immer besonders nett zu uns«, fuhr Marco fort. »Normalerweise sind sie immer samstags in den Laden gekommen, um für die nächste Woche Essen einzukaufen.«
    »Woher kommen die beiden?«, fragte Samuel.
    »Aus Mexiko«, antwortete Ina aufgeregt. »Und sie sprechen kein Englisch.«
    »Und dann sind sie plötzlich ein halbes Jahr lang nicht mehr in den Laden gekommen. Wir dachten zuerst, sie wären wieder
nach Mexiko zurück. Aber dann ist Ramiro letzten Samstag allein hergekommen. Er hat einen richtig traurigen Eindruck gemacht, und deshalb habe ich ihn gefragt, wo er seinen Cousin gelassen hat.«
    Ina, die ihrem Bruder nicht nachstehen wollte, unterbrach Marco: »Und dann hat er gesagt, sein Cousin ist verschwunden.«
    Samuel, der sich eifrig Notizen machte, schaute erstaunt auf.
    »Verschwunden?«
    »Ja, das hat Ramiro jedenfalls behauptet«, antwortete Marco.
    »Wie alt ist Octavio?«, fragte Samuel.
    Beide Kinder sahen ihn ratlos an.
    »Ich würde sagen, Anfang zwanzig«, antwortete Rosa María für sie.
    »Und wie sieht er aus?«, fragte Samuel.
    »Klein und schmächtig, wie die meisten Einwanderer aus Mexiko. Ein gutaussehender Junge, der sich von keinem was gefallen lässt, wenn Sie wissen, was ich meine.«
    »Nicht ganz«, antwortete Samuel, der sich ein Bild von Octavio zu machen versuchte.
    »Na ja, er macht einfach den Eindruck, als könnte er ganz gut selbst auf sich aufpassen«, sagte Rosa María. »Deshalb würde es mich auch nicht wundern, wenn er einer der Jugendbanden hier im Viertel angehören würde. Und aus diesem Grund habe ich zunächst auch gezögert, Sie anzurufen. Aber dann haben mich die Kinder doch überzeugt, dass Octavio nicht von sich aus verschwunden ist.«
    »Wie kann ich Ramiro erreichen?«
    »Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen seine Adresse und Telefonnummer geben«, sagte Rosa María und reichte Samuel einen Zettel. »Aber vergessen Sie nicht, er spricht kein Englisch. Sie werden also einen Dolmetscher brauchen. Zuallererst werden Sie ihn allerdings überzeugen müssen, dass Sie nicht vorhaben, ihn bei der Migra anzuschwärzen. Denn er ist natürlich illegal hier. Aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen helfen. Ich rufe
ihn an und erkläre ihm, wer Sie sind und dass Sie ihm vielleicht helfen können, seinen Cousin zu finden. Leider kann ich Sie nicht persönlich zu ihm begleiten. Sie wissen schon, die Kinder und das Geschäft.«
    »Eine Dolmetscherin werde ich mir beschaffen«, sagte Samuel.
    »Wann kann ich mit Ramiro sprechen?«
    »Ich versuche, ihn heute Abend anzurufen. Sind Sie über Melba zu erreichen?«
    »Nein. Hier sind meine Telefonnummern. Privat und in der Redaktion. Sagen Sie ihm, für mich wäre es am Wochenende günstiger. Geben Sie mir Bescheid, wann es ihm passt?«
    »Selbstverständlich, gern.«
    Mit einem anerkennenden Lächeln wandte sich Samuel wieder den Kindern zu. »Vielen Dank für eure Hilfe. Was ihr mir gerade erzählt habt, hilft mir sehr. Vielleicht kommt ihr sogar in die Zeitung.«
    »Gleich bei den Comics?«, fragte Marco aufgeregt.
    Samuel schaltete sofort. »Klar, wo denn sonst, Marco? Gleich bei den Comics.«
    Kurz vor Samstagmittag spähte ein junger Latino kurz ins Innere des mexikanischen Restaurants in der Valencia Street und öffnete die Tür, blieb dann aber zögernd stehen. Er wirkte schüchtern, noch keine zwanzig, allerhöchstens einen Meter fünfundsechzig groß und schmächtig. Sein Gesicht war schmal und kantig, seine Haut zimtfarben, und aus seinen dunklen braunen Augen sprach eine Mischung aus Traurigkeit und Angst.
    Samuel hatte sich Tacos mit gekochten Bohnen bestellt und trank dazu ein eiskaltes mexikanisches Bier. Vanessa schaute auf, legte die Gabel beiseite, mit der sie in ihrem Salat gestochert hatte, und winkte dem jungen Mann zu, der immer noch unschlüssig in der offenen Tür stand. Als wolle er sich vergewissern, dass ihm niemand gefolgt war und er nicht in eine Falle gelockt wurde, sah er sich verstohlen um und zögerte immer
noch, ihrer Aufforderung

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