Missgeburt
nachzukommen. Samuel beobachtete ihn aufmerksam und prägte sich sein Äußeres genau ein, um ihn notfalls wiederzuerkennen, falls er sich doch aus dem Staub machen sollte. Schließlich überwand sich Ramiro, kam an ihren Tisch, stellte sich ihnen vor und setzte sich.
Vanessa unterhielt sich zunächst auf Spanisch mit dem Jungen, und allmählich fiel die Anspannung von ihm ab. Ihre Einladung zum Essen schlug er allerdings aus. Samuel schob seinen leeren Teller und die ausgetrunkene Bierflasche beiseite und bat Vanessa, Ramiro zu fragen, warum er so nervös war.
»Er sagt, seit vor einem halben Jahr sein Cousin verschwunden ist, lebt er ständig in Angst. Zuerst dachte er, die Migra hätte Octavio geschnappt. Aber noch letzte Woche hatte niemand in seinem Heimatdorf in der Nähe von Mazatlán etwas von seinem Cousin gehört oder gesehen. Demnach kann er eigentlich nicht ausgewiesen worden sein. Er sagt, es ist extrem beängstigend, wenn ein Verwandter, mit dem man tagtäglich zu tun hatte, plötzlich wortlos verschwindet.«
Samuel wollte wissen, wann und warum sie aus Mexiko in die Staaten gekommen waren. Vanessa stellte die Frage auf Spanisch.
»Er sagt, sie sind vor zwei Jahren aus dem gleichen Grund wie alle anderen Männer in ihrem Dorf in die Staaten gekommen: um hier zu arbeiten und dann mit dem gesparten Geld zu Hause Land zu kaufen und ein Haus zu bauen.«
Ramiro beschrieb seinen Cousin Octavio ähnlich wie Rosa María. Samuel erkundigte sich nach Octavios Charakter. »War er in einer Gang oder in der Drogenszene?«
»Nein. Er war extrem strebsam und fleißig. Er wollte Geld sparen, um seine Freundin heiraten und mit ihr in die Heimat zurückkehren zu können. Aber dann wollte sie plötzlich nichts mehr von einer Heirat wissen und lieber in San Francisco bleiben«, übersetzte Vanessa. »Wie das?«, fragte Samuel.
»Sie war plötzlich total begeistert von der Kirche, in die sie immer gingen. Vor allem der Reverend hatte es ihr angetan. Octavio wurde eifersüchtig und wollte sie aus San Francisco fortbringen. Er suchte den Prediger sogar auf und sagte ihm, er solle die Finger von seiner Freundin lassen.«
Samuel und Vanessa sahen sich verdutzt an.
»Du meinst doch nicht etwa die Universalkirche für seelische Entfaltung?«, fragte Vanessa den jungen Mexikaner.
»Doch, genau die. Sara Obregon, Octavios Freundin, ging mehrmals wöchentlich in diese Kirche; deshalb begann auch er, regelmäßig an den Gottesdiensten teilzunehmen. Und dann regte sich in Octavio irgendwann der Verdacht, dass Sara mit dem Prediger etwas haben könnte. Aber seine Bodyguards hinderten ihn am Betreten der Kirche. Das hat ihn natürlich noch stärker aufgebracht.«
»Und wie hat sich Sara zu alldem geäußert?«, fragte Samuel.
»Sie war in der Zwischenzeit ziemlich krank geworden und suchte deshalb bei der Hexe Rat. Und irgendwann hatten Octavio und Sara eine heftige Auseinandersetzung wegen des Predigers. Er wollte, dass sie mit ihm nach Mexiko zurückkehrte und den Mann ein für alle Mal vergisst.«
Samuel schüttelte den Kopf. »Habe ich das gerade richtig verstanden? Sie hatten wegen des Predigers Streit?« »Sie behauptete zwar, kein Interesse an dem Prediger zu haben, meinte aber, es gebe da noch einen Punkt, den sie mit ihm klären müsse. Daraufhin verschwand zuerst Octavio spurlos und später auch Sara.«
»Sie ist ebenfalls verschwunden?« Samuel schüttelte ungläubig den Kopf.
»Als Octavio verschwand, wollte ich von Sara wissen, wo er sei. Sie schien wegen irgendetwas extrem beunruhigt und sagte lediglich, sie wisse nicht, wo er wäre, und es sei ihr auch egal. Sie meinte, sie habe selbst schon genügend Probleme.«
»Was waren das für Probleme?«
»Sie wollte nicht darüber reden, was sie bedrückte. Außerdem kannte ich sie nicht besonders gut. Und dann verschwand auch sie.«
»Wann in etwa?« Unwillkürlich musste Samuel an die kreischenden Mädchen in den vorderen Reihen der Kirche in der Mission Street denken.
Ramiro kratzte sich nachdenklich am Kopf und schaute aus dem Fenster. Samuel entging nicht, dass der ganze Schmerz über das Verschwinden seines Cousins wieder in ihm hochkam. Dann ballte der junge Mexikaner die Fäuste und hieb auf den Tisch. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, fragte er: »¿Me puede dar un vaso de agua?«
»Selbstverständlich«, sagte Vanessa und winkte dem Kellner.
»Samuel, möchtest du auch etwas trinken?«
Der Reporter schüttelte den Kopf und schlug eine neue
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