Mission Clockwork: Angriff aus der Tiefe
einem anderen werden.«
Er holte tief Luft, presste die Zähne aufeinander, lehnte sich an die Hauswand und konzentrierte sich auf die Vorstellung, sein Gesicht in das eines imaginären Mr Dawkins zu verwandeln, das Gesicht »eines jungen Lords mit Grübchen«.
Seine Knochen schmerzten, seine Muskeln brannten und er brach in Schweiß aus, während seine Augen – die kleinen, verkniffenen Augen des Dieners Siméon, der jetzt gerade in einer Opiumhöhle lag – größer wurden. Knirschend verschoben sich seine Knochen und streckten sich. Modos Kiefer wurde länger, seine Nase breiter. Er vergewisserte sich, dass sein verhasster Buckel nicht aus dem Rücken hervorwuchs.
Von klein auf war er in der Lage gewesen, sein Aussehen zu verändern. Er hatte jahrelang geübt, um seine Gabe – die Fähigkeit zur »adaptiven Transformation« – unter den wachsamen Augen von Mr Socrates weiterzuentwickeln. Doch noch immer gelang die Verwandlung nur unter äußerster Konzentration. Und der Vorgang war schmerzhaft. Oh, wie schmerzhaft! Modo verzog das Gesicht und stöhnte. In Gedanken hörte er Mr Socrates’ Stimme: »Dein Gesicht muss perfekt sein. Keine schlaffen Augenlider, keine Hängebacken, nichts, das deine wahre Hässlichkeit verrät. Vervollkommne dein Gesicht, Modo!« Er ließ nicht nach, bis auch der letzte Knochen an die richtige Stelle geglitten war. Jetzt wirkte er mindestens wie fünfundzwanzig. Modo riss sich den Backenbart herunter. Dann zog er ein Taschentuch hervor und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Den Rest seines Körpers verwandelte er nicht, sonst würde ihm die Kleidung, die er trug, nicht mehr passen. Er hatte auf dem Balkon einen langen dunklen Mantel versteckt. Den holte er nun hinter einem Stuhl hervor und warf ihn sich um die Schultern.
Das i-Tüpfelchen seines neuen Erscheinungsbilds war ein Klappzylinder, der sich auf Knopfdruck zu voller Höhe entfaltete. Modo setzte den Hut auf und kletterte dann durch das Fenster in einen leeren Raum. Im Nebenzimmer schreckte er allerdings eine Näherin bei der Arbeit auf. »Ach, du gute Güte!«, stieß sie hervor.
»Ich bitte um Verzeihung.« Modo verbeugte sich schwungvoll, bevor er rasch die Treppe hinunterstiefelte und das Haus verließ, um seinen Weg auf der Straße fortzusetzen. Er machte kurz halt, um ein Glas Stachelbeermarmelade zu kaufen, und kostete davon, während er weiterging. Natürlich hätte er ebenso gut über die Dächer zum Victor House gelangen können, aber dann würde er völlig verschwitzt eintreffen und Mr Socrates schätzte das nicht.
Modo hatte die vergangenen zwei Tage in der Botschaft verbracht, Essen aufgetragen und möglichst selten den Mund aufgemacht, da er nur leidlich Französisch sprach. Meist hatte er Krankheit vorgetäuscht und vor allem die anderen Dienstboten gemieden, die höchstwahrscheinlich Verdacht geschöpft hätten. Der Konsul und seine Sekretäre nahmen kaum von ihm Notiz – schließlich war er nur ein Bediensteter. Das erleichterte ihm seine Aufgabe. Sein Plan war gewesen, zur morgendlichen Stunde den Tresor zu knacken, weil er das Arbeitszimmer leer wähnte. Was für eine unangenehme Überraschung, den Konsul am Schreibtisch anzutreffen! Mr Socrates würde über seine schlechte Vorbereitung ungehalten sein.
Nach der Verwandlung verspürte Modo neuen Mut und schlenderte zurück Richtung Brompton Road und Knightsbridge. Von der gegenüberliegenden Straßenseite blickte er zu dem zerbrochenen Fenster im obersten Stockwerk der Botschaft hinauf. Beim Anblick der Gendarmen, die auf der Straße hin und her rannten, musste er kichern. Londoner Polizisten versuchten, sich Zutritt zur Botschaft zu verschaffen, aber französische Gendarmen hinderten sie daran. Fuhrwerke und Omnibusse ratterten vorbei.
Plötzlich hörte er Hundegebell und entdeckte Marcus mit zwei Wolfshunden, die an der Leine zerrten und ihn fixierten. Beinahe hätte Modo sich an der Stachelbeermarmelade verschluckt. Er hätte nicht so anmaßend sein dürfen, schimpfte er mit sich selbst und beschleunigte seine Schritte. Hastig drängte er sich an den Schaulustigen vorbei und bog in die nächste Querstraße ein, um eine Droschke anzuhalten. Nach einer zwanzigminütigen holprigen Fahrt setzte ihn die Kutsche vor dem Victor House ab. Modo wusste nicht, ob das herrschaftliche Anwesen Mr Socrates selbst gehörte oder ob es Eigentum der Ewigen Allianz war, jener britischen Geheimorganisation, in deren Dienst Agenten überall auf der Welt
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