Mission Clockwork: Angriff aus der Tiefe
so etwas wie Zuneigung zeigte. Das würde ein Vater tun, dachte Modo, seinem Sohn die Hand auf die Schulter legen.
»Ich habe die Informationen so weit als möglich transkribiert. Ich möchte, dass du nach dem Essen in dein Zimmer im Langham Hotel zurückkehrst. Dieser Einsatz ist für dich abgeschlossen.«
4
Der geheime Treffpunkt
A m letzten Tag seines Lebens verließ Matthew Wyle seine Wohnung an der Lafayette Place, trat auf den Bürgersteig, drückte seinen Bowler fester auf den Kopf und marschierte los.
Während seiner achtundvierzig Lebensjahre hatte Wyle schon Kriege in Afghanistan und Gefechte in Indien erlebt, bei der Begegnung mit einem mexikanischen Säbel ein Auge eingebüßt und vor einer karibischen Insel Schiffbruch erlitten. An diesem Nachmittag beschlich ihn das Gefühl, dass er sich auf all diese unseligen Abenteuer nur eingelassen hatte, um dem unerbittlichen, eisigen Wind zu entfliehen, der durch die hektischen Straßen New Yorks fegte, der ihm in die Knochen fuhr und sein Glasauge austrocknete.
Einige Stunden zuvor war ein Telegramm von Mr Socrates eingetroffen, in dem ihm die genaue Lage eines Raums in der Astor Library mitgeteilt wurde, der ein bevorzugter Treffpunkt der französischen espions war. Bei dem Gedanken lachte er in sich hinein. Die ganze Zeit strebte er unermüdlich im Verborgenen danach, die verschiedenen Spionage- und Agentenzellen in New York aufzuspüren, und jetzt stellte sich heraus, dass eine Zelle ihren Treffpunkt in eben der Bibliothek hatte, die er zweimal die Woche aufsuchte, um sich zu entspannen und Shakespeare zu lesen. Sein Auftrag lautete, herauszufinden, was in diesem Raum vor sich ging, und seine Erkenntnisse an Mr Socrates zu telegrafieren.
Ein leises Hüsteln wenige Schritte hinter ihm verursachte Wyle eine Gänsehaut. Aber als er sich umdrehte, war niemand in seiner Nähe. Während seiner zwanzigjährigen Agententätigkeit hatte er oft zu Recht vermutet, dass er beschattet wurde. In letzter Zeit schien ihm allerdings seine Fantasie nur allzu häufig einen Streich zu spielen, denn im Gegensatz zu früher gelang es ihm nie, tatsächlich jemanden hinter sich zu ertappen. Er wusste von Agenten, die von schattenhaften Verfolgern faselten, während man sie ins Irrenhaus verfrachtete. War das ein erstes Anzeichen, dass er allmählich dem Wahnsinn verfiel? Er konnte nicht einmal mehr ungestört schlafen. In der vergangenen Nacht hatte ihn ein ähnliches Husten in seiner Wohnung aus dem Schlaf schrecken lassen. Er hatte das übermächtige Gefühl gehabt, beobachtet zu werden, doch bei der Durchsuchung der Räume konnte er keinen Eindringling finden.
Wyle stapfte die Stufen zum Portal der Bibliothek hinauf. Im Inneren stieg ihm der angenehme Geruch von Büchern in die Nase, der in ihm nostalgische Gedanken an seine Jugend im kanadischen Ottawa weckte. Dort war er aufgewachsen, bevor er später zur Royal British Navy gegangen war. Seine Mutter hatte eine eigene kleine Bibliothek besessen und ihm oft vorgelesen. Einen Augenblick lang war er wieder der kleine Junge von damals, dann brach er in schallendes Gelächter aus.
Hier stand er, ein erwachsener Mann, einäugig und gezeichnet von Narben aus mehreren Schlachten, und träumte von seiner Mutter.
Er ging an einer Gruppe eleganter Herren mit sauber gestutzten Bärten vorüber und an einer schwarz gekleideten jungen Frau mit stählernem Blick. Die Frau kam ihm bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen.
Während er die Treppe im hinteren Teil des Gebäudes hochging, dämmerte es ihm: Die aufrechte Haltung und selbstbewusste Ausstrahlung erinnerten ihn an Colette Brunet, die französische Spionin. Sie trat ebenso überlegen auf und war äußerst schwierig aufzuspüren. Er hatte sie bis nach New York verfolgt, aber vor einigen Wochen aus den Augen verloren. Sie war ein gerissener Fuchs. Wie konnte er sich nur von einem Mädchen – halb Japanerin, halb Französin – abhängen lassen?
Das oberste Stockwerk der Bibliothek beherbergte die größte Philosophieabteilung der Stadt, doch niemand schien sich für die Bücher zu interessieren. Offenbar hatte er die gesamte Etage für sich allein. Das Morgenlicht spiegelte sich in den Fenstern des Gebäudes auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sodass er blinzeln musste. Sein gesundes Auge hatte immer schon empfindlich auf grelles Licht reagiert.
Wyle fand die Tür zu dem Versammlungsraum hinter den langen Regalreihen eines Büchermagazins. Sie stand
Weitere Kostenlose Bücher