Mission Munroe. Die Sekte
Marokko
Wenigstens rückte die Schlange vorwärts.
Er nahm die Reisetasche und schlang den Riemen über die Schulter. Alles tat ihm weh, schlecht war ihm auch, und so setzte er behutsam und überlegt einen Fuß vor den anderen, während er im Pulk die Flucht aus der transatlantischen Gefangenschaft antrat – den Gang entlang, zum Rumpf des Flugzeugs hinaus, durch die Schleuse und schließlich durch die sonnendurchfluteten Gebäude des Aéroport Mohammed V.
Drei Tage mit wenig Schlaf lagen jetzt hinter ihm. Drei Tage und drei Ewigkeiten waren vergangen seit jenem Anruf in den frühen Morgenstunden mit der unverhofften, lang ersehnten Nachricht. Regungslos hatte er im Dunkeln auf der Bettkante gesessen und sämtliche Möglichkeiten durchgespielt, so lange, bis er sich sicher war, dass ihm tatsächlich nur eine einzige Option blieb. Dann hatte er noch einmal zum Telefon gegriffen und in Marokko angerufen.
Du musst mir einen Gefallen tun.
Das waren seine einzigen Worte gewesen. Keine Einleitung, keine Erklärung, nichts weiter als diese Bitte.
»Worum geht’s?«, hatte sie gesagt.
»Ich komme zu dir.«
Das war alles. Kein Abschied, nur seine unausgesprochene
Angst, verpackt in diese wenigen Worte und durch den Äther in die Nacht geflüstert. Er hatte den Hörer auf die Gabel gelegt und sich mit schweißnassen, zitternden Händen vor den Computer gesetzt und einen Flug gebucht.
Er brauchte ihre Hilfe und war um den halben Erdball geflogen, nur um sie darum zu bitten.
Jetzt ließ er sich einfach mit der Menge treiben, während ihm die verschiedensten Formulierungen durch den Kopf gingen, immer und immer wieder, in einer Endlosschleife, die seit dem Anruf niemals geendet hatte.
Er verlangsamte seine Schritte. Blieb vor einer großen Fensterscheibe stehen. Starrte auf die leere Rollbahn hinaus, während die anderen Fluggäste hinter ihm vorbeihuschten.
Selbst wenn er es versucht hätte, er hätte die Anzahl der Flughäfen und Bahnhöfe, die seine Jugend begleitet hatten, niemals zählen können. Zahllose Visumstempel und ständige Umzüge hatten sein Leben geprägt. Er war als eines von acht Geschwistern aufgewachsen, deren Eltern einer Sekte angehörten und die wie ein bunter Haufen von Zweiter-Klasse-Vagabunden ununterbrochen um den Globus reisten.
Er hauchte seinen Namen an die Fensterscheibe, den Namen, der sich selbst in seinen Ohren fremd anhörte, wie ein leiser, gedämpfter Tribut an die Vergangenheit, die ihn bis hierher gebracht hatte, die Vergangenheit, die sich weigerte zu sterben, egal wie lange oder wie oft sie begraben wurde.
Sherebiah Gospel Logan.
Sein Name war Logan. Nur Logan. Immer Logan. Und gegenüber den wenigen Menschen, die auch den Rest kannten, schob er es auf die Drogen und die Hippies. Das
war so viel einfacher, als zu versuchen, etwas zu erklären, was die meisten ohnehin niemals begreifen konnten.
Verzweiflung hatte ihn hierhergetrieben, zu dem einen Menschen, der ihn verstehen konnte, zu dem einen Menschen, der fähig war, die Vergangenheit für alle Zeit zu begraben. Falls sie dazu bereit war. Er brauchte ihre Bereitschaft, er brauchte ihre Zustimmung. Und er wollte nicht darum feilschen, nicht einmal ansatzweise. Daher war er als Bittsteller gekommen, voller Demut. Er hatte ihr nichts zu bieten als die innige Vertrautheit, die zwischen ihr und ihm bestand, sowie seine geheime Furcht vor ihrem Nein.
Er sah den letzten Passagieren und der Flugzeugbesatzung nach, die ihr Gepäck durch die Halle zogen. Erst jetzt nahmen seine Beine endlich wieder ihren Dienst auf.
Die Passkontrolle und die anderen Zollformalitäten erledigte er völlig automatisch. Schließlich hatte er den Wartebereich mit seinen unendlich vielen Gesichtern erreicht und suchte nach ihr. Erst nachdem er sie ein-, zweimal übersehen hatte, nahm er sie wahr. Sie lehnte mit verschränkten Armen an einer Säule, und ihr Grinsen sagte ihm, dass sie ihn schon eine Weile beobachtet hatte.
Vanessa. Michael Munroe. Beste Freundin. Ersatzfamilie. Persönliche Heilsbringerin.
Sie sah überhaupt nicht mehr aus wie die kampfgestählte Kriegerin, die vor acht Monaten von der afrikanischen Westküste zurückgekehrt war. Sie trug eine weite Hose und ein zartes Kopftuch. Alles an ihr war weich und feminin und ziemlich genau das Gegenteil von dem, was er erwartet hatte. Aber ihr Anblick ließ neue Hoffnung in ihm aufkeimen.
Er blieb stehen, während sie sich von der Säule abstieß und mit breitem Grinsen auf ihn zukam,
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