Mission Munroe. Die Sekte
Frage zu beantworten, die du mir stellen willst. Und falls du dich anschließend ein bisschen frisch machen möchtest … ich habe einen Satz saubere Klamotten mitgebracht. In ungefähr …« Munroe reckte
sich, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. »In ungefähr einer Stunde kommt deine Mom zur Tür herein – deine richtige Mom, die, die dich nie gehen lassen wollte, die Mom, die acht Jahre lang nach dir gesucht hat und die all ihre Liebe für dich aufbewahrt hat, ganz allein für dich.«
Hannah kämpfte schon wieder mit den Tränen, aber es gelang ihr, eine wenigstens halbwegs trotzige Miene aufzusetzen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Und dieser Kerl, der angeblich mein Vater sein soll?«
»Er kommt ein bisschen später dazu.«
»Und was dann?«
»Was würdest du dir denn wünschen?«
Hannah sah zum Fenster hinaus. »Ich müsste eigentlich zurück in die Oase«, sagte sie.
Eigentlich .
Munroe fuhr fort: »Aber ist es das, was du wirklich willst?«
Sie hatte ihr eine Frage gestellt, die sie nicht beantworten konnte, ohne den PROPHETEN und die ERWÄHLTEN zu verraten.
Indem sie Hannah die Gelegenheit bot, Eltern zu treffen, die sie liebten und bei sich haben wollten, hatte Munroe den größten Apfel gewählt, den diese kleine Eva sich ersehnen konnte. Aber der Apfel lag in der LEERE , er war eine verbotene Frucht, das große Unbekannte: die Angst vor dem Bösen. Einem Kind, das bei den ERWÄHLTEN aufgewachsen war, fiel es viel leichter, zu dem bereits bekannten Teufel zurückzukehren, als sich einem neuen und unbekannten zu stellen. Hannah hatte keine Vorstellung von der Idee des freien Willens, konnte nicht verstehen, dass es vollkommen in Ordnung war, Wünsche zu haben und dem Herzen zu folgen. Deswegen sprach Munroe weiter.
Sie erzählte ihr von David Law und allem, was er unternommen hatte, um Hannah aus Charitys und Logans Händen zu reißen. Sie sprach über das, was danach passiert war, und beschrieb Charitys Persönlichkeit bis ins kleinste Detail. Dann erzählte sie ihr kleine Geschichten von Logan, amüsante Anekdoten, die jedem Kind gefallen hätten, bis Hannah irgendwann anfing zu lächeln und gelegentlich sogar lachte. Als Munroe überzeugt davon war, dass das Mädchen seine Schutzschilde etwas gesenkt hatte, dass sie eine gewisse Verbindung zu ihr aufgebaut hatte und dass Hannah sich auf dem Terrain, das sie in Kürze gemeinsam betreten würden, halbwegs sicher fühlte, drückte sie ihr die Kleider, die Heidi ihr gegeben hatte, in die Hand und schob sie in Richtung Badezimmer.
Später saßen sie im Schneidersitz auf dem Bett und pickten sich die besten Stücke aus einem weiteren Teller mit Leckereien heraus, da klingelte das Telefon. Hannah riss die Augen auf, und die Sorgenfalten waren schlagartig wieder da. Munroe streckte sich nach dem Nachttischchen und nahm den Hörer in die Hand. Sie hörte Bradfords Worte und erwiderte lediglich: »Ja, ihr könnt kommen.«
Dann sagte sie zu Hannah: »In ein paar Minuten kommt deine Mom hier rein. Wenn es so weit ist, ziehe ich mich zurück und lasse euch allein, okay? Aber ich bleibe ganz in der Nähe. Wenn du mich brauchst, musst du bloß rufen, in Ordnung?«
Hannah nickte, aber die Angst war ihr deutlich anzusehen. Ohne zu überlegen, was sie da tat, zerzauste Munroe ihr die Haare. Hannah zuckte zurück und versuchte, das Durcheinander, das Munroe angerichtet hatte, wieder glatt zu streichen.
Munroe lachte. »Genau wie dein Dad«, sagte sie.
Kapitel 39
Der Abflugbereich vor dem Gate für den Direktflug nach New York war voller wartender Passagiere, überwiegend Jugendliche und Mittzwanziger mit abgerissenen Klamotten und zerschlissenen Rucksäcken. Dazwischen waren vereinzelt auch betuchtere Reisende und ein paar Touristen zu sehen. Sie alle drängten sich auf einer Fläche, die zwar geräumig wirken sollte, aber letztendlich kaum größer war als ein Viehwaggon.
Munroe und Bradford standen vor der Absperrung und sahen Logan, Charity und Hannah nach, während sie die Fluggastbrücke entlanggingen. Ein entführtes und nach langer Zeit wiedergefundenes Kind zu sein hatte nicht viele Vorteile, aber einer davon war eine bevorzugte Behandlung bei der Abfertigung.
Und dann waren sie verschwunden.
Der Auftrag war erledigt.
Kein Druck mehr. Das entstandene Vakuum fühlte sich an wie ein Stadion voller schreiender Menschen, in dem plötzlich Stille herrschte.
Munroe ließ den Kopf an Bradfords Schulter sinken. Einen Augenblick lang
Weitere Kostenlose Bücher